Er schlug das Buch etwas unsanfter und heftiger zu, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. Es hatte keinen Sinn mehr darin zu lesen, weil die Worte vor seinen Augen verschwammen und er sich nur noch mit Mühe an die letzten paar Sätze erinnern konnte. Mühsam raffte er sich auf und fing an, seine Schultasche für den nächsten Tag zu packen. Es war gerade mal kurz nach neun Uhr Abends und er fühlte sich irgendwie antriebslos und fertig. Er hatte den ganzen Tage eigentlich nichts anspruchsvolles gemacht, dass dieses Lethargie rechtfertigen könnte, aber er wunderte sich auch nicht darüber. Schließlich waren die Tage, an denen er sich nicht so fühlte seit geraumer Zeit eine Ausnahme. In Gedanken versunken zog er sich um und ging ins Bett. Zwar hatte er mittlerweile geschafft, dass seine Gedanken nicht ständig in alle Richtungen abschweiften, aber die bohrende Frage, die er eigentlich loswerden wollte, ist geblieben. Warum fühlte er sich seiner Lebensphilosophie nur noch auf einer abstrakten, rein logischen Ebene verbunden? Wo ist die Begeisterung und Freude dafür geblieben? Er schlief auch diese Nacht ein, ohne auch nur in die Nähe einer Antwort gekommen zu sein.
Er stand in einem Raum von dem er weder die Decke noch die Wände sehen konnte und trotzdem wusste, dass sie irgendwo außerhalb seiner Sichtweite vorhanden waren. Es waren nirgendswo Lampen, Fenster oder andere Lichtquellen zu sehen und trotzdem herrschte war es nicht stockdunkel. Es war angenehm dämmerig und er fühlte sich aus einem unerfindlichem Grund heraus geborgen. Dieser Raum kam ihm sehr bekannt vor, obwohl er sich sicher war, dass er nie zuvor in ihm gewesen war. Bevor er sich weitere Gedanken darüber machen konnte, wo er eigentlich war, ertönte eine relativ hohe, schrille Stimme: „ Aha, der HERR bequemt sich also mal hierher? Macht er sich doch Sorgen?“ Eine zweite, ziemlich wütende Stimme antwortete sofort: „ Neinein, ER weiß doch noch nicht einmal wo er ist. ER wird auch sofort wieder gehen und UNS wieder verlassen!“ Er schaute sich irritiert um, weil er den Ursprung dieser Stimmen nicht orten konnte. Eine dritte Stimme mischte sich in die Diskussion mit ein. Es war eine angenehme, langsame und ruhige Stimme, die nicht sonderlich laut aber trotzdem sehr deutlich und klar war. Außerdem betonte sie weder sich noch ihn besonders. „ Beruhigt euch erst mal, wir können ihn doch Frage, ob er an unserem Problem interessiert ist. Danach könnt ihr euch gerne weiter streiten!“ In dem letzten Satz lag ein bisschen ärger, der aber eher väterlich als böse gemeint war. Die Stimmen verstummten für ein Moment und eine Rauchwolke mit menschenähnlichen Konturen tauchte in seinem Sichtfeld auf. Zu seinem eigenen Erstaunen war er weder schockiert noch ängstlich, vielmehr wollte er wissen, was das denn war, obwohl er irgendwie das Gefühl hatte, dass er es eigentlich schon wusste. Die Rauchsäule zögerte einen kleinen Moment und für einen kurzen Moment sah es fast so als ob sie sich auflösen würde. Dann verdichtet sie sich jedoch wieder und sprach ihn an: „WIR finden es gut, dass DU UNS besuchen kommst und würde uns freuen, wenn DU UNS etwas von DEINER kostbaren Zeit schenken würdest um DIR UNSER Problem zu erklären. Allerdings hätten WIR auch Verständnis dafür, wenn DU UNS nicht helfen würdest.“ Noch bevor er darauf antworten konnte, ertönte wieder die wütende Stimme. Sie kam definitiv auch aus der Rauchsäule, aber die Tatsache, dass zwei verschiedenen Stimmen aus einer Rauchsäule kamen kam ihm völlig natürlich vor. „ WIR hätten kein Verständnis, wenn DU jetzt einfach wieder gehst!“ Die Stimme klang diesmal ziemlich aufgebracht und bestimmend. Damit es nicht zu einer weiteren Diskussion zwischen den verschiedenen Stimmen kam, lenkte er ein. „Wenn ihr mir sagt, was ihr für ein Problem habt, dann werde ich mich bemühen euch zu helfen.“ Innerlich seufzte er, weil er sich eigentlich nicht dazu in der Lage fühlte, anderen Personen (er konnte die Rauchsäule nicht als Mensch bezeichnen) zu helfen, während er selber ein großes Problem hatte, dass er nicht lösen konnte. Die Rauchsäule zögerte einen Moment und ihm war, als ob er etwas in ihr wispern hörte. Dann sprach die ruhige Stimme. „Folge UNS bitte, WIR möchten DIR etwas zeigen.“ Die Rauchsäule setzte sich langsam in Bewegung und er folgte ihr. Es irritierte ihn etwas, dass die Rauchsäule hörbare Schritte machte, weil er eigentlich davon ausgegangen war, dass sie einfach über dem Boden schwebt. Die Rauchsäule machte einen Schwenk nach links und wurde schneller, sodass er etwas Mühe hatte, mitzukommen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass von der Rauchsäule ein diffuses Licht ausging, dass die absolute Dunkelheit des Raumes so weit durchbrach, dass es einem als Angenehm erschien. Nach einem weiteren Schwenk nach links blieb die Rauchsäule auf einmal stehen und er wäre fast in sie hineingelaufen. Sie standen vor einer Wand, die weder zu den Seiten noch nach oben ein Ende zu haben schien. In die Wand eingelassen war eine relativ große Metalltür, die von sich aus zu leuchten schien. „WIR sind da!“ meldete sich eine wütend klingende Stimme. Er wusste nicht, was als nächstes geschehen sollte und wartete darauf, dass die Rauchsäule etwas machte. Es schien ihm so, als ob die verschiedenen Stimmen der Rauchsäule wieder leise tuscheln würden und nach kurzer Zeit kam wieder die ruhige Stimme aus dem Rauch. „ Schließ bitte mal die Tür auf, vor der DU stehst“ . Ohne zu wisse, was er tat, griff er in seine Hosentasche. Seine Finger stießen auf einen großen und kalten Gegenstand. Er zog ihn aus der Tasche und stellte fest, dass es sich um einen großen, altmodischen Schlüssel handelt, wie er häufig in alten Burgtüren steckt. Verdutzt schaute er die Rauchsäule an. Zum einen wusste er nicht, wie dieser Schlüssel in seine Hosentasche gekommen sein sollte und zum anderen war es gerade ganz sicher nicht sein Wille gewesen, die Hand in die Tasche zu stecken. Die Rauchsäule schien ihn schelmisch anzugrinsen und er fühlte sich auf einmal irgendwie unwohl, so, als ob er gerade etwas verloren hätte, nur noch nicht wusste, was es war. „ Los, los, schließ auf, schließ auf! Beeil DICH!“. Es war die wütende Stimme, die drängelte. Er steckte den Schlüssel in das Schloss und drehte in langsam nach rechts. Eigentlich hatte er ein quietschen erwartet, aber stattdessen drehte sich der Schlüssel fast ohne wiederstand und ohne Geräusche. Er ging einen Schritt zurück und zog die Tür vorsichtig auf. Das Licht, das ihm auf einmal aus dem Raum hinter der Tür entgegen strahlte blendete ihn und er musste die Augen für einen Augenblick schließen. Noch bevor er die Augen wieder geöffnet hatte, spürte er einen Stoß in seinem Rücken und er stolperte blindlings in den Raum. Reflexartig riss er die Augen auf und drehte sich um. Zu seinem großen Erstaunen stand hinter ihm nicht die gestaltenlose Rauchsäule, sondern ein ungefähr 14 Jähriger Junge mit schwarzen Haaren, einem bleichen, aristokratischem Gesicht und flinken schwarzen Augen, die ihn ruhig, aber unterschwellig genervt fixierten. Es herrschte ein Moment absolute Stille und es schien ihm fast so, als ober der Junge auf eine Äußerung oder ein Zeichen von ihm warten würde. Gerade als der Junge seinen Mund aufmachen wollte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. „ Du bist Arthemis Fowl!?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage und der Junge zog seine linke Augenbraue kurz hoch signalisierte damit, dass er recht hatte. „ Bravo, ich hätte allerdings erwartet, dass du das etwas schneller rausfindest. Da du nun schon weißt, wer ich bin, solltest du auch wissen, wo du bist und wir können uns sofort dem eigentlichen Thema wenden.“ Ungeduldig ging Arthemis an ihm vorbei und zog ihm kurz am Pullover um ihm zu signalisieren, dass er mitkommen soll. In seinem Kopf drehte sich gerade alles und er stolperte einfach hinter Arthemis her, ohne darauf zu achten, wo er eigentlich war. Arthemis Fowl war eine Romanfigur! Warum zum Teufel sprach er mit einer Romanfigur? Er ging alle Verknüpfungen durch, die er in seinem Kopf zu Arthemis gemacht hatte. Das alles ergab doch keinen Sinn… Auf einmal blieb er erschrocken stehen, was Arthemis dazu brachte, ihn mit einem ziemlich bösen Blick zu bedenken. Er nahm nicht einmal war, das Arthemis ihn anguckte, weil in seinem Kopf gerade eine Vorstellung Form annahm, die unter keinen Umständen möglich sein konnte, aber gegen die er keinerlei Fakten anführen konnte. Er hatte Arthemis, der als absolut hochintelligent dargestellt wurde, immer in Verbindung mit der Lösung von Problemen gesehen. Seine letzten Gedanken, an die er sich erinnerte, waren, dass er eine Lösung für sein Problem finden musste. Es schien ihm so, als ob er sich irgendwie in seinem eigenen Kopf befand und dementsprechend Arthemis eine Figur seiner Fantasie war. Aber das war eigentlich unmöglich! Arthemis schien erraten zu haben, was er gedacht hatte. Er lächelt ein wenig. „ In gewisser Weise bin ich tatsächlich du, aber ich bin eben nur ein Teil von dir.“ Er machte eine kurze Pause, „ Der bessere Teil von dir, wenn ich das richtig bedenke!“ Wieder folgte eine kurze Pause. „ Aber zerbrich dir nicht weiter den Kopf darüber, denn es zählt nicht, wo du bist, sondern was ist. Und darüber möchte ich mit dir reden!“ Er guckt Arthemis für einen kurzen Moment verwirrt an, aber dann schien es ihm auf einmal wieder völlig normal, dass er sich mit einer Reflektion seiner Selbst unterhalten konnte. Irgendetwas hinderte ihn daran, die ganze Situation als völlig unlogisch anzusehen und er fühlte sich wieder gut aufgehoben. „Schau dich einmal in diesem Raum um“, forderte Arthemis ihn auf. Er drehte sich ganz langsam um die eigene Achse und bemühte sich jedes Detail aufzunehmen. Der Raum, in dem er sich befand schien ziemlich groß zu sein, aber die wahren Dimensionen ließen sich nur erahnen, weil überall Boxen, Kisten und Truhen aufeinander gestapelt waren. Es war keine erkennbare Ordnung in diesem Stapeln, aber sie waren meistens klar von anderen Stapeln abgegrenzt. Jeder Stapel war von einem System von hellen Fäden überzogen, die an die Oberfläche der Gegenstände geheftet schienen. An Stellen, an denen sich viele Fäden kreuzten hatten sich dicke, pulsierende Knoten gebildet. An anderen Stellen verloren sich die Fäden einfach im Raum, ohne an irgend einem Gegenstand zu enden. Wieder andere Fäden hatten sich verheddert und leuchteten in einem unregelmäßigem Rhythmus. „Was siehst du?“ fragte Arthemis in einer Stimmlage, die eindeutig ungeduldig war. Er überlegte für einen Augenblick, auf welche Details Arthemis wohl Wert legen würde, besann sich dann aber darauf, dass Arthemis nur ein Teil von ihm war und überlegte eine Antwort, wie er sie selber gerne hören wollte. Also beschrieb er ihm genau, was er wahrgenommen hatte, ohne etwas daran zu deuten. Arthemis nickte. „ Du hast mir beschrieben, was du gesehen hast, ich werde es dir nun erklären, damit wir endlich zum Thema kommen können. Ich denke nämlich, dass du mit der Deutung etwas länger brauchen würdest.“ Seine Stimme hatte wieder einen arroganten Klang, der aber nicht böse gemeint war. „ Dieser Raum ist das Reich der Logik. In den Kisten sind alle deine Erinnerungen nach einem logischen Muster einsortiert, und die Stapel selber stellen wiederum bestimmte Gruppen von Erinnerungen dar. Das Netz sind die Verknüpfungen, die du zwischen den verschiedenen Gedanken erstellst hast. Du bist hier in meiner Heimat, im Reich der Logik!“ Ihm wurde nun vollends klar, warum er die Gestalt von Arthemis Fowl sah: Arthemis ist ein Junge, der absolut perfekt im logischen denken ist und er hatte ihn immer als Vorbild gesehen. Arthemis war für ihn sozusagen das Sinnbild der Logik. Arthemis guckte ihn leicht verärgert an. „ Wenn du weiterhin Gedanklich so abschweifst, weiß ich nicht, wie ich mit dir Reden soll. Konzentrier dich gefälligst!“ Dann fuhr er deutlich sanfter fort. „ Du hast in letzter Zeit ein Problem, dass dich nicht loslässt.“ Er wollte gerade darauf antworten, als Arthemis fortfuhr. „ Du fühlst dich antriebslos und dir kommen deine ganzen Ideale und Wünsche sehr abstrakt vor. Du fühlst dich aber nicht Sinnlos, sondern dir fehlt „lediglich“ „ er betonte dieses Wort besonders „die Begeisterung, mit der du früher durch dein Leben gegangen bist. Du kommst dir selber überhaupt nicht mehr wichtig vor und bist der Meinung, dass du eigentlich eher eine Last als ein Vorteil bist. Deine Leistungen lassen nach und deine Selbstachtung nimmt mit jeder schlechten Leistung, die du bringst, ein kleines Stückchen mehr ab, weil du dich nur noch an der eigenen, positiven Leistung freuen kannst. Du kannst andere Personen nicht mehr emotional einschätzen, sondern muss dich ganz auf ihre Stimmlage, Mimik und Gestik verlassen. Deshalb möchtest du auch nicht wirklich gerne viel mit Menschen in Kontakt kommen, die du nicht ziemlich gut kennst. Überhaupt bedeuten dir soziale Kontakte nicht so viel, weil du immer denkst, dass du den Menschen nur zur Last fällst. Du kannst dich auch nicht emotional auf einen Menschen besonders einlassen, weil dir diese Dimension beinahe vollständig fehlt. Du kannst dich zwar genauso gut auf geistiger Ebene auf diesen Menschen einlassen, aber du hast dann immer Angst, das du diesen Menschen einfach nur enttäuschst.“ Arthemis verstummte und guckte ihn mit einem bohrenden Blick an. „ Du hast recht“, antwortete er, „aber da ist noch mehr.“ Er verstummte kurz, um zu überlegen, wie er weitermachen wollte. „ Ich wollte mich nicht mehr durch Emotionen von dem wirklich wichtigen im Leben, der Analyse von Fakten einschränken lassen. Außerdem habe ich vor einiger Zeit durch unkontrollierte Emotionalität, die im Gegensatz zu meiner Logik stand, Schaden angerichtet, der unnötig war. Ich wollte mich nicht mehr ablenken lassen und habe einfach angefangen, meine Emotionen stärker zu kontrollieren und notfalls zu blocken. Es bedurfte zwar einer enormen Anfangsanstrengung, aber nach einiger Zeit hatte ich das ziemlich gut geschafft. Ich wollte aber nie alle Emotionen löschen, sondern einfach nur unbeschwerter leben, ohne irgendwelchen unbedachten Schaden anzurichten. Aber ich bin dann über mein Ziel hinausgeschossen und kann es irgendwie nicht mehr rückgängig machen. Der Punkt der idealen Balance war sehr angenehm und ungemein produktiv, aber dann habe ich irgendwie die Kontrolle darüber verloren. Mein Kopf war danach zu voll mit irgendwelchen Gedankenschrott, das ich wirkliche Probleme hatte, mich zu konzentrieren. Warum? Ich meine, du bist die Logik, die vereinfacht eigentlich alles!“Arthemis hatte die Augen geschlossen und schien sich zu konzentrieren. Es herrschte eine Weile stille, bis er antwortete. „ Die Logik vereinfacht, das stimmt. Aber wenn du die Logik verwendest um einen Wall zu bauen, der die Emotionen aus deinem Kopf halten soll, dann schließt du auch gleichzeitig alle Gedanken ein, die normalerweise in Emotionen umgesetzt würden und dich dann nicht mehr belasten. Du hast dir also selber in Bein gestellt, in dem du deine eigene Rechenleistung überschätzt hast. Dein logisches Denken musste sich erst auf die neue Belastung einstellen, aber seit dem es das geschafft hat, bewältigt es den allergrößten Teil deiner „emotionalen“ Gedanken recht gut.“ Wieder schwiegen beide. „ Es gibt aber etwas, das ich dir auch noch zeigen muss“, fing Arthemis wieder an. „ Guck dir mal den Schlüssel, mit dem du die Tür geöffnet hast, genauer an.“ Er holte den Schlüssel aus der Tasche und betrachtete ihn genau. Er wollte gerade sagen, dass er nichts besonderes sehen könne, als seine Finger eine kleine Unebenheit fanden. Einen Moment später fanden sie eine weitere Unebenheit, und dann noch eine und noch ein. Überrascht hob er den Schlüssel noch einmal auf Augenhöhe und ließ seine Augen über jeden Quadratmillimeter des Schlüssel gleiten. Es erschrak ihn, als er sah, dass die auf den ersten Blick so perfekte Oberfläche von unzähligen feinen Rissen und Brüchen durchzogen war. Es schien ihm so, als ob der Schlüssel jeden Moment in seinen Fingern zerbröseln könnte. „ Du hast das Problem erkannt“, meldete sich Arthemis wieder zu Wort. „Dieser Schlüssel und nur“, er betonte das „nur“ , „dieser Schlüssel öffnet die Tür zur Logik .Wenn er einmal zerbrochen ist, wird diese Tür für immer verschlossen bleiben und werde dir dann auch nicht mehr helfen können!“ Es lag zum ersten Mal etwas so etwas wie Angst oder Furcht in der Stimme von Arthemis. „Warum geht denn dieser Schlüssel überhaupt kaputt?“ wollte er wissen. Arthemis guckte als ob er einen schlechten Scherz gemacht hätte. „Du willst mir doch nicht wirklich sagen, dass du nicht weißt, warum dieser Schlüssel immer weiter zerbröselt?“ Er öffnete den Mund und wollte irgendetwas antworten, aber Arthemis schnitt ihm mit einer energischen Geste das Wort ab. „ Alles was du hier siehst besteht aus Energie, auch der Schlüssel. Diese Energie lieferst du, liefern deine neuen Gedanken, neue Informationen, neues Wissen. Wenn du keine neuen Gedanken mehr lieferst oder wenn du selber keine Energie mehr hast, verschlechtert sich auch der Zustand dieses Schlüssels. Wenn du dann auch noch das Vertrauen in die Logik verlierst, wird sich dieser Schlüssel in kurzer Zeit aufgelöst haben. Du musst etwas dagegen tun! Und jetzt komm mit und sprich mit den Emotionen.“ Arthemis ging ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen einfach auf die Tür. Er öffnete sie und deutete mit Nachdruck hinaus. Er dachte noch einen Moment über Arthemis Worte nach und ging dann auch zur Tür. Als er den Raum vor der Tür betrat, erwartete ihn auch schon die Rauchsäule, die irgendwie entspannter und lockerer aussah. Sie betonte auch weder ihn noch sich besonders, was wahrscheinlich daran lag, dass sie ihren ärger größtenteils vergessen hatte. „Du hast jetzt wahrscheinlich schon einiges von unserem Problem erfahren haben und da du immer noch da bist, denken wir, dass du auch uns zuhören wirst.“ Er wusste nicht was er sagen sollte und nickte einfach. „ Arthemis bleibt in seinem Raum. Wir können uns also unbeeinflusst von der Logik unterhalten.“ Er meinte eine unterschwellige Genugtuung in der Stimme zu hören. „ Dein Problem liegt eigentlich auf emotionaler Ebene und nicht auf der Ebene der Logik. Du hast die Tür zum Raum der Emotionen so zugemauert, dass wir sie nicht mehr öffnen können. Du bist die einzige Person, logischerweise, die das kann. Deshalb musst du dich anstrengen.“ Es herrschte einige Zeit schweigen zwischen ihm und der Rauchsäule. Dann redete sie weiter. „ Du hast es verlernt, von dir aus zu fühlen.“ Wieder stoppte sie einen kurzen Augenblick, als ob sie überlegen würde, wie sie ihre nächsten Sätze gestalten sollte, damit sie den ihn auch ansprechen. „ Du kannst dich nur noch über gute Leistungen, die von dir kommen, freuen. Aber da sie ziemlich selten sind, hast du schon fast vergessen, wie „Freude“ sich überhaupt anfühlt. Du fühlst dich zwar noch glücklich, wenn du Sport machst, aber auch diesen Endorphin Rausch bemühst du zu kontrollieren, damit du nicht übermütig wirst. Es fehlt einfach an positiven Emotionen in deinem Leben.“ Er wollte gerade anfangen sich zu verteidigen, da schnitt ihm die Rauchwolke auch schon wieder das Wort ab. „ Natürlich gibt es auch keine negativen Emotionen mehr, aber ist es das wirklich wert? Ist dir deine momentane emotionale Gleichgültigkeit gegenüber deinem Umfeld wirklich lieber als eine emotional Sicht, auch wenn sie verzerrt? Ich weiß, dass du viele Fehler unter dem Einfluss der Emotionen begangen hast, aber hat das nicht jeder?“ „Dieses Argument hat keinen Wert“, mischte er sich nun doch ein. „Außerdem bin ich nicht jeder! Meine Handlugen haben Folgen und ich möchte in der Lage sein für diese Folgen einstehen zu können. Es ist mir egal, ob das jeder macht oder nicht. Ich möchte ein klein wenig besser sein, als ich es eigentlich, damit die Welt auch ein klein wenig besser wird.“ „Du hast nicht ganz verstanden, was ich sagen wollte“, mischte sich die Rauchsäule wieder ein. „ Du kannst natürlich der Logik in deinen Entscheidungen immer den Vorrang geben, aber du musst das nicht so eng sehen. Wie willst du den auf Dauer mit anderen Menschen leben, wenn du gar nicht weißt, was sie fühlen, weil du es selber vergessen hast?“ Es herrschte ein kurzes schweigen, dann antwortete er. „ Ich weiß es auch nicht. Ich bemühe mich, das zu tun, was mir als logisch richtig erscheint und den Personen, die mir etwas bedeuten, auch zu zeigen, dass sie mir etwas bedeuten. Ich habe nur immer Angst, das ich falsch verstanden werde. Aber ich sehe das Problem auch eher darin, dass ich nicht mehr weiß, wofür ich eigentlich mich anstrenge, was meine wirklichen Ziele sind. Ich kann doch eh‘ nichts verändern, warum bemühe ich mich also?“ Die Rauchsäule schien zu grinsen. „ Wer für nichts kämpft, hat schon verloren! Dieser Spruch scheint dich auch emotional zu beeindrucken, sonst wüsste ich ihn nicht. Irgendwie scheinst du noch einen kleinen Zugang zu deinen Emotionen zu haben, weil du nur für etwas kämpfen kannst, wenn du dich auch dafür begeistert und du bist jetzt noch nicht aufgegeben hast. Such dir etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt und lasse allen Emotionen, die dabei entstehen einfach ihren Lauf. Du wirst davon nicht sterben, aber vielleicht reicht das ja aus um die Mauer zu zerbrechen, die du so schön vor meine Tür gebaut hast.“ Er guckte die Rauchsäule etwas ungläubig an. Es war etwas Wahres an ihrer Aussage, aber es sperrte sich alles ihn ihm gegen die Idee, seine Emotionen einfach laufen zu lassen. Wie sollte er sie jemals wieder einfangen und hinter seiner Tat stehen können? Die Rauchsäule erkannte, was er dachte und verlor kräftig an Farbe. „Ich denke, Arthemis und ich haben dir alles gesagt. Jetzt hängt es nur noch von dir ab, ob du wieder glücklich wirst, oder ob du irgendwie anders leben musst. Du scheinst allerdings so starrköpfig zu sein, dass ich eher glaube, dass du über kurz oder lang auch noch die Kontrolle über deine Logik verlierst. Du bist im Moment nicht deprimiert oder emotional ausgelaugt, du bist emotional tot! Und tote Menschen leben eigentlich nicht mehr lange!“
Er wachte auf, weil der Wecker klingelte. Schlaftrunken tastete er nach dem nervenden Ding, fand es endlich und stellte ihn aus. Ihm fehlte, wie eigentlich jeden Morgen, ein Grund dafür aufzustehen und so blieb er liegen, bis sein rationaler Teil seines Gehirns anfing aktiv zu werden und Gründe fand, aufzustehen. Diese völlige Gleichgültigkeit gegenüber seiner Umwelt laugte ihn aus. Auf einmal erinnerte er sich an einen Satz, von dem er aber nicht mehr wusste, wo er ihn gehört hatte: „ Du bist nicht deprimiert oder emotional ausgelaugt, du bist emotional tot!“ Er hatte die dumpfe Vermutung, dass er diesen Satz in einem Traum gehört hatte, aber konnte sich nur daran erinnern, dass er etwas völlig unlogisches geträumt hatte. Seufzend stand er schließlich auf, um einen weiteren Tag zu beschließen, der zwar gestochen scharf und detailreich war, aber dem die Farben der Emotionen fehlten. Das konnte er wirklich nicht leben nennen!