Freitag, 4. Juli 2014

Zukünftige Vergangenheit




Die warme Nachmittagssonne schien mit einem schon leicht orange - gelben Licht auf die große Stadt und heizte die Betonschluchten mit ihren Asphaltcanyons gehörig auf. Doch niemand beschwerte sich darüber, ganz im Gegenteil. Die Personen auf der Straße lächelten einander zu, freuten sich über die Sonne und genossen ihre freie Zeit auf den großen Wiesen in den Parks oder an den Seen. Diese angenehme Leichtigkeit des Seins hatte auch die beiden jungen Menschen erfasst, die gerade auf der Treppe eines Museums saßen. „Wer die Vergangenheit erkennt, vermag auch die Zukunft zu erkennen“, las das Mädchen laut vor. Der Spruch stand auf einem Banner, das entlang der historischen Fassade des Museums befestigt war und wurde umrandet von den Köpfen bedeutender historischer Persönlichkeiten.

„Ein weiser Spruch“, stimmte der Junge, der neben ihr saß, zu. „Und leider von viel zu wenig Personen beachtet und von noch weniger ernst genommen“.

„Warum weise?“, wollte sie wissen.

„Lass uns aufstehen“, entgegnete er, „beim Gehen kann ich besser denken“.
Sie stand auf und machte leichtfüßig einen großen Satz über die beiden Stufen der Treppe, auf der sie saßen. Ihre langen, kupferfarbenen Haare reflektierten lustig das Sonnenlicht und ließen ihre Bewegung sehr fließend erscheinen. Der Junge warf noch einen dankbaren Blick in Richtung des blauen, wolkenfreien Himmels, bevor er auch aufstand und die beiden Stufen hinuntersprang.
„Also,“ fing er an. „Jede unserer Handlungen hat ja irgendeinen Grund. Lassen wir einmal alle reflexbedingten Handlungen und alle instinktiven Handlugen, wobei die Gründe für diese Handlungen einfach nur sehr weit in der Vergangenheit liegen, beiseite, so gibt es für jede Handlung einen Grund.“

„Das sagtest du bereits“, unterbrach sie ihn lachend. „Aber das bringt mich mit meiner Frage nicht weiter“.

„Ich wollte das nur noch einmal deutlich machen, damit es auch wirklich verstanden ist“, meinte er neckisch. Sie knuffte ihn zur Antwort bloß in die Seite. „Schon in der Formulierung dieser „Regel“ zeigt sich, dass „Grund“ und „Handlung“ maximal zeitgleich stattfinden können, jedoch kann niemals die „Handlung“ vor dem „Grund“ stattfinden. Denn dann müsste es ja heißen „Jede Handlung wird einen Grund haben“. Aber ist es überhaupt möglich, dass der „Grund“ für eine „Handlung“ zeitgleich mit der Handlung stattfindet? Ich denke nicht. Denn damit es von einem „Grund“ zu einer „Handlung“ kommt, muss erst eine „Bewertung“ und eine „Reaktion“, also eine „Prozessierung“ erfolgen. Dies bedeutet, dass der „Grund“ von einem „Sensor“ detektiert werden muss, damit er dann weiter von einer verarbeitenden Einheit, also in diesem Fall unserem Gehirn, verarbeitet werden kann. Und da manche von uns eine besonders „lange Leitung“ haben“, er warf einen belustigten Blick auf sie, „ist es ja schon eine Binsenweisheit, dass die „Handlung“ immer erst nach dem „Grund“ erfolgen kann.“

Sie hatten seinen Blick gesehen und gewartet, bis er seinen Bandwurmsatz zu Ende gebracht hatte. „Längere Leitung bei gleichem Volumen gleich mehr Gehirnwindungen pro Volumen gleich besseres Gedächtnis“ konterte sie. „Aber deine Argumentation klingt interessant. Du willst also darauf hinaus, dass wir für jede Handlung einen Grund aus der Vergangenheit benötigen. Das ist schön und gut. Aber warum sollten wir dann durch die Vergangenheit unsere Zukunft kennen? Du hast jetzt einfach kausal-deterministisch argumentiert. Daraus hat sich jetzt nicht ergeben, dass wir die Zukunft durch die Vergangenheit kennen, sondern nur, dass die Vergangenheit die Grundlage für die Zukunft ist. Was ja nichts neues ist – actio-reactio sollte man irgendwann mal gehört haben. Aber eine Kugel kennt ja auch nicht ihren Weg, wenn sie eine schräge Ebene hinunter rollte. Sie rollt zwar, weil sie angestoßen wurde, aber das „Anstoßen“ versetzt sie nicht in die Lage ihren weiteren Weg zu kennen und dementsprechend „kennt“ sie auch die Zukunft nicht wirklich. Warum sollten wir dann die Zukunft aus der Vergangenheit kennen?“

Während sie sprach entdeckte er in ihren Augen ein kleines Funkeln und meinte zu spüren, wie die Neuronen unter ihrer Schädeldecke anfingen ein Feuerwerk abzubrennen. Sie hatte sich auf seine Theorie eingeschossen, einen guten Treffer gelandet und jetzt war er wieder an der Reihe seine Linien wieder zu schließen und das verlorene Gelände wieder gutzumachen. Es war ein anregendes Spiel, bei dem keiner verlieren wollte und sie waren beide ziemlich gut darin!
„Natürlich hast du recht mit deinem Punkt. Das bloße Vorliegen eines „Grundes“ zeitlich vor der „Handlung“ bedeutet nicht zwangsläufig, dass wir deshalb wissen, wie die „Handlung“ verläuft und wir damit die Zukunft kennen würden. Aber du hast auch Unrecht. Denn wir entscheiden uns in einem entscheidenden Punkt von der Kugel, die du als Beispiel genommen hast: Wir sind biologische Systeme und zumindest prinzipiell erinnerungsfähig“.

„Du bildest dabei aber öfter mal die glorreiche Ausnahme“, merkte sie grinsend an.
Er überging ihre Neckerei mit einem Lächeln und fuhr fort. „Denn im Gegensatz zu der Kugel können wir den Weg der Kugel, je nach Datenlage, mit einer sehr hohen Genauigkeit vorhersagen. Im Idealfall könnten wir das sogar zu 100%. Der Grund dafür sind die verschiedenen physikalischen Formeln, die das Verhalten von trägen Materialen, von fallenden Körpern etc. beschreiben und zum Teil schon vor zwei- oder dreihundert Jahren aufgestellt wurden. Und das liegt nun wirklich deutlich in der Vergangenheit. Diese Formeln sind wiederum aus langen Beobachtungsreihen entstanden. Kurz gesagt: Alles, was wir sehen lässt sich mit der Physik nach Newton beschreiben. Würden wir alle Variablen kennen, könnten wir das Verhalten von jedem Körper zu jeder beliebigen Zeit vorhersagen. Und das alles nur dank „Gründen“, also Formeln, aus der Vergangenheit!“ Bei seinen 
letzten Sätzen glänzten seine Augen und er machte eine weit ausholende Geste.

„Newton war schon ein ziemlich genialer Mann“, stimmte sie ihm zu und wickelte eine Strähne ihrer Haare gedankenverloren um ihren Zeigefinger. „Aber er war ein Physiker, er hat damit nur das Verhalten von unbelebten Körpern beschrieben. Lebewesen hingegen zeigen da doch ein etwas anderes, eigenwilligeres Verhalten. Mit Newton wirst du partout nicht in der Lage sein zu erklären, warum meine Katze die Maus nur beschnuppert und sich dann mit ihr das Futter teilt.“
„Oder, warum du gerade deine Haare verknotet hast“, kommentierte er amüsiert ihren Versuch, die Haare wieder von dem Finger abzuwickeln. „Aber du hast wieder Recht, die Physik verleiht uns nur die Fähigkeit dank der Arbeit vergangener Genies die Zukunft von unbelebter Materie zu kennen. Aber die Zukunft von Lebewesen lässt sich trotzdem auch durch die Vergangenheit bestimmen. Was machst du wenn du Hunger hast?“

„Was essen!“ Sie guckte ihn etwas verwirrt an, während sie immer noch mit dem Knoten in ihren Haaren kämpfte. „Was denn sonst?“

„Und warum isst du?“ fragte er weiter und beobachtete dabei ihr Gesicht. Im ersten Moment herrschte noch vollkommene Verwirrung über diesen anscheinenden Themenwechsel in ihrem Gesicht vor. Ihre leicht gerunzelten Augenbrauen und ihr langsames Blinzeln verrieten, dass sie probierte den Sinn hinter dieser Frage zu verstehen. Dann hellte sich ihr Gesicht wieder auf und ein Ausdruck der Begeisterung macht sich um ihren Mund und ihre Augen breit.

„Du willst darauf hinaus, dass ich aus Erfahrung, also aufgrund meiner Vergangenheit weiß, dass essen satt macht. Auch diese einfache Handlung basiert also auf einer Extrapolation meiner „Erlebnisse“ der Vergangenheit in die Zukunft.  Da das Hungergefühl auch in der Vergangenheit verschwunden ist, wenn ich etwas gegessen habe, wird es wahrscheinlich auch in der Zukunft verschwinden. Das gleiche gilt dann auch für alle anderen Erlebnisse, vom Üben für eine Prüfung über das Erkennen von Gefahren bis hin zum sozialen Umgang mit anderen Menschen. Immer handele ich so, wie es in der Vergangenheit schon zu für mich positiven Ergebnissen geführt hat.“ Sie hielt kurz inne und warf einen Blick auf die Haare in ihrer Hand. Sie hatten den Knoten endlich heraus bekommen und strich die Strähne nun wieder glatt. Während ihre Hände automatisiert handelten, dachte sie an die weiteren Implikationen dieser Idee. Das dezente Grinsen, was ihren Mund meist umspielte, wuchs zu einem fröhlichen lachen heran. „Du hattest Recht und auch wiederum nicht!“

„DAS musst du mir jetzt genauer erklären“ antwortete er interessiert. Sie hatte seine Idee offensichtlich besser verstanden als er selber, da er keinen Fehler darin finden konnte.
„Naja, die Frage war ja, ob wir die Zukunft über die Vergangenheit erkennen können. Das können wir aber auch nach der gerade aufgestellten Theorie bei Lebewesen, wenn man mal alle „biologischen Computer“ rauslässt, also alle Einzeller und instinktgesteuerten Lebewesen, nur bedingt. Denn unser Verhalten in der Zukunft beruht nämlich nicht auf unabänderlichen naturwissenschaftlichen Gesetzen, sondern auf Wahrscheinlichkeiten!“  Sie sah an seinem nachdenklichen Gesichtsausdruck, dass er probierte zu verstehen, wie sie darauf gekommen ist. „Bei deinem Beispiel mit dem Hunger ist es noch alles so wie in dem Beispiel mit der Kugel auf der schiefen Ebene. Wir kennen alle Parameter und können dementsprechend das Ergebnis vorhersagen. Das Hungergefühl entsteht unter anderem durch eine geringe Füllung des Magens und sobald der wieder gefüllt wird, verschwindet es wieder. So weit, so einfach. Aber was ist mit komplizierteren Handlungen? Angenommen ich würde mich hier nicht auskennen und hätte mich verlaufen. In der Vergangenheit habe ich verschiedenen Methoden kennen gelernt um mich wieder zu orientieren. Ich setzte jetzt einfach mal voraus, du wärst ein Beobachter, der über all meine vergangenen Erfahrungen Bescheid weiß. Könntest vorhersagen, was ich jetzt mache?“

„Wahrscheinlich nicht. Ich kenne dich zwar schon seit Ewigkeiten und dürfte dementsprechend nicht nur die meisten deiner Erfahrungen kennen, sondern habe zusätzlich noch recht gute Kenntnisse darüber, wie du die Erfahrungen prozessierst und an neue Situationen adaptierst. Aber auch mit diesem Wissen wäre ich nur in der Lage zu vermuten, wie deine nächste Handlung aussieht. Bei vollständiger Kenntnis der Situation könnte ich zwar eine ziemlich sichere Vermutung abgeben, aber es würde trotzdem unterschiedliche Möglichkeiten mit jeweils unterschiedlichen 

Wahrscheinlichkeiten geben. Du wärst vermutlich zu Stolz um irgendjemanden um Rat zu fragen und würdest so lange in der Stadt umherirren, bis du einen Stadtplan oder eine Straße, die dir bekannt vorkommt, gefunden hast.“ Diesen kleinen Seitenhieb konnte er sich nicht verkneifen. Allerdings war er sehr angetan von ihrer Schlussfolgerung, dass die Zukunft trotz guter Kenntnisse der Situation und der vergangenen Erfahrungen nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden kann. Irgendwie schaffte sie es immer wieder, dass er sich im Gegensatz zu ihr relativ ungebildet vorkam.
„ Nicht ganz“, konterte sie seine Neckerei. „Ich würde vermutlich einfach mein Handy bemühen, das habe ich im Gegensatz zu dir nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu Hause vergessen.“ Sein schiefes Grinsen verriet ihr, das sie damit voll ins Schwarze getroffen hatte. „Wer die Vergangenheit erkennt, vermag auch die Zukunft zu erkennen“, wiederholte sie den Satz, der die ganze Diskussion ausgelöst hatte, noch einmal langsam. Sie hatte wieder angefangen mit ihren Haaren zu spielen und ein verträumter Ausdruck schlich sich in ihr Gesicht. Der Ausspruch stimmte zwar nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, aber im Großen und Ganzen war er doch nicht ganz falsch. Vielleicht sollte man sich doch mehr mit der Geschichte beschäftigen, dachte sie. Vielleicht würde das helfen, das Leben mit all seinen Tücken und Fallen einfacher zu verstehen und viele Fehler einfach zu vermeiden. Die meisten Fehler sind ja schließlich schon von anderen Menschen gemacht worden!
Sie hatten beide unbewusst einen kleinen Park angesteuert, der an einen Teil des Stadtwaldes angrenzt. Die Sonne hing mittlerweile schon Tief genug um hinter den Baumwipfeln zu verschwinden und ließ ihr warm-oranges Licht durch die Baumreihen blitzen. Sie setzten sich schweigend nebeneinander auf die Wiese und ließen dieses angenehme Licht auf ihre Gesichter scheinen. Für einen kurzen Moment verschwamm die Welt um sie herum und sie tauchten in ihrer Gedanken eiin. Dann verschwanden die Sonnenstrahlen wieder zwischen den Bäumen und die restliche Welt gewann wieder an Schärfe.

„Kleinkinder und Babys kennen auch keine Zukunft, weil sie ja noch keine Erfahrungen, keine Vergangenheit haben“, ließ sie in die Stille zwischen ihnen fallen. „Deshalb handeln sie oft unvorhersehbar und man muss immer auf sie aufpassen. Sie leben sozusagen immer im „hier und jetzt“, ganz im Gegensatz zu uns“. Ein klein wenig Wehmut mischte sich in ihre Stimmte.
„Wenn Kleinkinder nur in der Gegenwart, im „hier und jetzt“ leben können, leben wir dann eigentlich in der Vergangenheit? Oder doch eher in der Zukunft?“ Er wirkte fast schon ein wenig verwirrt, an diese Implikation hatte er noch gar nicht gedacht. Dass es in einem gewissen Rahmen nicht nur möglich ist die Zukunft über die Vergangenheit vorherzusagen, sondern dies eigentlich ständig im Alltag geschieht, warf eine Menge an neuen Frage auf.

„Naja, weder noch“ meinte sie leichtmütig. „Oder sowohl als auch, je nachdem wie du es sehen möchtest. Wir bedienen uns eigentlich bei jeder unserer Tätigkeiten, jedem Gespräch, ja sogar jeder Geste aus unserem Erfahrungsschatz. Da dieser eindeutig durch unsere Erlebnisse in der Vergangenheit zustande gekommen ist, macht die Vergangenheit einen sehr wichtigen Teil unserer „Gegenwart“ aus. Gleichzeitig überlegen wir, bewusst oder unbewusst, was für Folgen unser Handeln für die Zukunft hat. Ich möchte satt werden, also esse ich – um dein Beispiel noch einmal aufzugreifen. Und auch dieses Mal steckt in der Formulierung schon eine sehr wichtige Information: Das „werden“ bezieht sich auf die Zukunft, wir handeln also nicht um unsere Situation in dieser Sekunde, sondern in gewisser Zeit zu verbessern.“ Im gleichen Maße wie sie ihre Argumentation aufbaute, zog ein düsterer Ausdruck auf ihrem Gesicht auf. Nach ihrem letzten Wort sah sie in leicht verärgert an „Wenn alles Vergangenheit oder Zukunft ist, was ist dann überhaupt das jetzt, die Gegenwart?“ Sie hatte ein Gänseblümchen von der Wiese gepflückt und zerrupfte es unruhig. „Sie muss es doch geben, wo leben sonst die Kleinkinder?“

Er musste aufgrund der Formulierung der letzten Frage grinsen. „Zu Hause, denke ich mal.“ Auch seine Finger waren unruhig und unbewusst fing er an einen großen Löwenzahn zu bearbeiten. „Aber eigentlich ist das mit der Gegenwart recht einfach“, meinte er schließlich. „Prinzipiell ist die Gegenwart immer der „Ist-Moment“, der eine weitere Handlung induziert. Das Gefühl „Hunger“ ist ein „gegenwärtiges“ Gefühl. Der Schmerz, wenn du dich schneidest, ist ein „gegenwärtiges“ Gefühl. Die bloße Tatsache, dass wir hier sitzen ist Gegenwart. Aber immer nur für einen winzigen, nicht messbaren Moment.“ Er verstummte kurz und sah auf die kläglichen Rest des Löwenzahns in seinen Händen. Schnell warf er den Stiel weg und schnappte sich den nächsten. Irgendwie beruhigte es ihn, wenn seine Hände etwas zu bearbeiten hatten, während er dachte. Sie hatte inzwischen einen ganzen Haufen an Gänseblümchen gefunden und daraus eine Kette gemacht. Es war faszinierend anzusehen, wie so etwas Einfaches so schön aussehen konnte, dachte er. Sie hatte seinen Blick bemerkt und hielt kurz inne in ihrer Arbeit, ein Armband aus den restlichen Blümchen zu zaubern „Sieht nicht schlecht aus, oder?“

„Ganz und gar nicht!“ Doch das er seinen Blick nicht von der Kette lösen konnte, lag nicht nur an ihrer schlichten Eleganz. „Ich glaube, ich weiß jetzt, wie du dir die „Gegenwart“ vorstellen kannst!“ Sie sah in interessiert an „Erzähl!“

„Stell dir vor dass jedes Gänseblümchen in deiner Kette eine „Gegenwart“ ist. Wenn du jetzt ganz willkürlich ein Gänseblümchen als „Jetzt“ bezeichnest und kurz mal die Zeit anhältst, sodass das „Jetzt“ bestehen bleibt, ist der Rest ganz einfach. Alle Blümchen bis zu dem „Jetzt“ sind dann „vergangene Gegenwart“ oder einfacher gesagt „Vergangenheit“. Alle Blümchen nach dem „Jetzt“ sind dann „zukünftige Gegenwart“ oder „Zukunft“. Du existierst also immer nur in der „Gegenwart“, aber du wanderst auf ihr – oder mit ihr – aus Richtung „Vergangenheit“ in Richtung „Zukunft“!
Sie hatte ihr Armband fertiggestellt und probierte nun es über ihre Hand zu bekommen, ohne es dabei zu zerreißen. Nach dem sie es ein paar Mal versucht hatte, seufzte sie einmal kurz, und streckte sich um an ein weiteres Gänseblümchen zu kommen. „So wie du es beschreibst, wäre dann aber die Zukunft schon vorhanden. Das ist ein sehr deterministischer Gedanke. Und wie wir schon festgestellt hatten, ist zumindest das Verhalten der Menschen nur zu einer bestimmten Wahrscheinlichkeit vorhersagbar. Es ist also nicht nur eine mögliche Zukunft vorhanden, sondern nahezu endlos viele, da es nahezu endlos viele verschiedene Handlungsmöglichkeiten der über sieben Milliarden Menschen gibt. Das macht es uns unmöglich alle möglichen Varianten der Zukunft zu kennen.“

"Und wie sieht es mit einem hypothetischen Wesen aus, dass das Verhalten von allem mit Sicherheit kennt? Für so ein Wesen  würde meine Erklärung doch gelten!“ Es war ein halbherziger Versuch von ihm sein schönes Beispiel zu retten. Ihre Erklärung war argumentativ eindeutig die bessere, aber er wollte seinem Beispiel mit der Kette zumindest einen letzten Rest an Sinn geben.

„Für so ein Wesen würde deine Erklärung gelten,“ gestand sie ihm lachen zu. „Aber da wir leider nicht über solche Eigenschaften verfügen, ist es für uns irrelevant wie die Zukunft mit solchen Eigenschaften aussehen würde.“ Sie hatte das Armband endlich fertig gestellt und begutachtete für einen kurzen Moment ihr Werk, bevor sie weitersprach. „Um das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu beschreiben, eignet sich wahrscheinlich eine Linie, die mit einem Kugelschreiber gezogen wird, am besten. Die Vergangenheit, also der Strich, der schon existiert, ist fixiert und lässt sich weder verändern noch vernichten. Die Gegenwart ist immer nur der kleine Kopf der Mine, der ständig weiterwandert. Und die Zukunft ist das gesamte freie Blatt vor dem Stift. Am wahrscheinlichsten ist natürlich eine nahezu unveränderliche Weiterführung des vorherigen Teilstückes der Strecke, aber es kann durchaus auch abrupt zu einer Kurve oder Ecke kommen. Fest steht nur, dass, so lange es Zeit gibt, die Linie weiter gezogen wird.“

„Und das wir Menschen dann doch einen ganz schönen Einfluss auf unsere direkte und spätere Zukunft haben können“ ergänzte er zufrieden. „Es ist echt faszinierend, wie sehr wir durch Rekombination von bekannten Sachen und ein klein wenig Neugierde immer wieder eine komplett neue Zukunft schaffen. Dabei liegt lediglich unsere Existenz in der Gegenwart, während unser Denken und Handeln irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft pendelt.“ Die letzten Reste der Sonne waren jetzt vollständig hinter den Bäumen verschwunden und es wurde langsam ein wenig kühl. Sie sahen sich beide kurz an und standen auf.

„Dass du jetzt auch aufstehst, hätte ich vorhersagen können“ meinte sie fröhlich. „Aber viel besser als das ist die Erkenntnis, dass es zwar normalerweise nahezu unmöglich ist, das Verhalten von Einzelpersonen in der Zukunft vorherzusagen, aber es verhältnismäßig gut geht, das Verhalten von großen Gruppen, Populationen, Staaten und Ethnien bei ausreichender Kenntnis der Geschichte und der gegenwärtigen Situation vorherzusagen.“

Ein Augenblick sah er sie verdutzt, dann fing er an zu lachen. „Wenn du dich ab jetzt immer so ausdrückst, verkaufe ich dich als „lebendes Wikipedia“!
„Dann halte ich mich in Zukunft wohl wieder besser zurück – auch, um deinen Ego zu schonen und dir nicht immer zu zeigen, dass ich doch mehr weiß als du.“
„Das wäre noch zu beweisen“, gab er zurück. Sie verließen den kleinen Park wieder und sobald sie das kleine Waldstück weit genug hinter sich gelassen hatte, schien ihnen die mittlerweile fast untergegangene Sonne mit ihren letzten Strahlen wieder ins Gesicht. Es war ein schöner Sommerabend und sie genossen den Augenblick dieser einfachen Leichtigkeit des Seins. 

Vergangene Zukunft - Zukünftige Vergangenheit

Donnerstag, 29. Mai 2014

Abgelehnte Liebe

Der Sieg von Conchita Wurst beim ESC hat wieder die Diskussion über Toleranz einer Gesellschaft gegenüber der sexuellen Identität des Einzelnen angeheizt. Schon im Vorfeld des ESC wurde sehr viel über Conchita berichtet – es stand dabei jedoch fast immer ihre Identität und ihr Äußeres im Vordergrund, musikalische Themen wurde höchstens am Rande mal erwähnt. Natürlich ist Conchita ein sehr extremes und schillerndes Beispiel, aber auch im Alltag ist die sexuelle Orientierung einer Person oft noch ein großes Thema. Warum fasziniert und beschäftigt dieses Thema so viele Personen und warum ist es immer noch gesellschaftlich relevantes Thema, ob man sich zu Frauen, Männern oder beiden hingezogen fühlt?

Auch in unserem sehr freiheitlichen, um nicht freizügigem Zeitalter zu sagen, haftet der Sexualität immer noch etwas Verruchtes an. Obwohl das Thema längst schon nichts mehr ist, über das nur hinter verschlossenen Türen gesprochen wird, hat es immer noch das Zeug zum Reizthema. So ist dieses Thema immer noch schlüpfrig genug um die eine oder andere Karriere zu beenden und kann dementsprechend auch gut als Druck- und Drohmittel eingesetzt werden. Außerdem scheint es oft so, als ob mit einer Art „Doppelstandard“ erlaubt ist. Soll heißen, solange man sich im Rahmen der Mehrheitsmeinung bzw. Mehrheitsspielart befindet, ist einem sehr vieles erlaubt. Liegt man jedoch außerhalb dieses Rahmens, sollte man sich am besten einfach gar nicht zum Thema Sexualität äußern und auch ansonsten nicht auffallen. Ich möchte gar nicht sagen, dass die Mehrheit der Bevölkerung so denkt, aber es gibt immer noch genug Personen, für die es von entscheidender Bedeutung ist, dass sein Gegenüber auch „der Norm“ entspricht, also heterosexuell veranlagt ist. Diese Personen äußern sich jedoch öffentlich so gut wie nie abwertend gegenüber anders veranlagten, aber im privaten Kreis – oder wenn sie etwas getrunken haben – tauchen bei ihnen teilweise sehr unschöne Redeweisen auf. Man kann mit dem Thema „Sexualität“ also immer noch ganz gut für Furore sorgen, auch weil eben noch genügend Personen existieren, für die das von Bedeutung ist. Und genau das ist der Punkt, den ich nicht mehr nachvollziehen kann.

Vielleicht bin ich einfach komisch, aber mich hat es noch nie wirklich interessiert, ob jemand links- oder Rechtshänder war. Es ist für mich bis jetzt vollkommen irrelevant, was für eine Hautfarbe mein Gegenüber hatte. Und es hat mich nie wirklich interessiert, ob jemand homo-, hetero- oder transsexuell ist. All diese Eigenschaften sind (größtenteils) genetisch festgelegt und ursächlich nicht zu ändern – es sind die Eigenschaften die einfach zu einem Menschen dazugehören, die jedoch kaum Einfluss auf die Person haben. Genetisch bedingte Sachen sind Zufälligkeiten, die niemals, wirklich niemals, dazu führen dürfen, eine Person ab- oder aufzuwerten. Erst die Handlungen einer Person dürfen bewertet werden.

Richtig bewusst geworden ist mir das Thema erst, als eine gute Freundin mir erzählt hatte, dass sie jetzt mit ihrer besten Freundin zusammen ist – und mich im Anschluss gebeten hat, das erst einmal vertraulich zu behandeln. Zwar war mir bewusst, dass es teilweise noch  negativ angesehen wird, wenn man homosexuell veranlagt ist, aber es war für mich kein ernstzunehmendes Thema gewesen. Nicht, weil es mir egal ist, wenn andere Personen ungerecht behandelt werden. Sondern, weil ich es mir nicht vorstellen konnte, wie man nur so ignorant und dreist sein kann und Personen wegen solcher Nebensächlichkeiten zu benachteiligen. Der einzige Grund, der mir dafür einfällt, sich für die sexuelle Veranlagung einer Person zu interessieren, ist, dass man selber ein Interesse an dieser Person hat. Passt es schon aufgrund der unterschiedlichen Veranlagung nicht, so ist es einfach Pech – das Leben ist leider nicht immer fair. Ansonsten kann mir die  sexuelle Veranlagung genauso egal sein wie die Händigkeit oder die Hautfarbe. Wenn ich sie erfahre, ist es eine Information, die ich mir merken kann. Oder einfach wieder vergessen darf, weil sie für die weitere Zusammenarbeit mit dieser Person nicht von Relevanz ist!

Solange es die Menschheit nicht schafft diese absolut einfachste Stufe von Toleranz aufzubringen, glaube ich nicht daran, dass dieser Planet irgendwann einmal auch nur annähernd so etwas wie Frieden erfährt. Hoffentlich ändert sich die Einstellung der Menschheit demgegenüber eines Tages einmal grundlegend!

Lieben und Lieben lassen - 
Es kann doch nicht so schwer sein!