Dass sich das Wort Demokratie aus dem
griechischen „Demos“ für „Volk“ und „Kratos“ für „herrschen“ zusammen
setzt ist für die meisten Personen keine Neuigkeit. Über die Bedeutung dieser
„Herrschaft des Volkes“ herrscht jedoch schon eine größere Uneinigkeit. Zwar
sind sich noch fast alle darüber einig, dass das Volk jemanden für eine gewisse
Zeitspanne als Herrscher wählt, aber was für Rechte es abgesehen von dieser
Wahl noch hat, ist offensichtlich schon etwas, worüber man sehr gut streiten
kann. Die aktuelle Situation in der Türkei, Brasilien und in Ägypten sind sehr
gute Beispiele dafür, wie viel „Volksherrschaft“ überhaupt geduldet wird.
In der Türkei entwickelte sich aus einem kleinen, eigentlich unbeachteten
Protest für den Erhalt eines Parks
mitten in Istanbul eine fast schon ausgewachsene Rebellion gegen die Politik
Erdogans. Der ursprüngliche Protest wurde sehr schnell von der Polizei mit massiver
Gewalt angegangen, da solche Proteste in der Türkei anscheinend nicht erwünscht
sind. Im Zeitalter der modernen Medien ist ein massiver Polizeieinsatz gegen
friedliche Demonstranten jedoch eine sichere Methode um den Protest aufzubauen.
So kam es dazu, dass es nach relativ kurzer Zeit nicht mehr vorrangig um den
Park ging, sondern sich zehntausende Menschen versammelten, um gegen all die
Dinge zu Demonstrieren, die ihnen an der momentanen Regierung der Türkei nicht
passen. Die Polizei versuchte auch diese Massenproteste gewaltsam aufzulösen,
aber sie scheiterte immer wieder an der schieren Masse der Personen. Dass sie
es letztendlich doch geschafft hat, die Proteste aufzulösen, ist einem sehr
massiven Einsatz von Gewalt und wahrscheinlich auch einem nachlassendem
Interesse der Demonstranten zu verdanken. Die Medienauftritte von Erdogan im
Laufe dieser Proteste, in denen er die Demonstranten abwertend bezeichnete und
sie teilweise auch offen beschimpfte, zeigten deutlich, dass Erdogan die Linie
der Polizei stützte. Wenn sich eine Person gegen den so eindeutigen Willen
eines recht großen Teils der Bevölkerung stellt, ist dies eine bestimmte
Auffassung von Demokratie, die uns aber auch in Europa immer wieder Begegnet: „Demokratie“,
also eine Mitwirkung des Volkes an der Politik, wird nur so lange geduldet, wie
sie für einen selber angenehm ist. Wird sie unangenehm, muss das Volk eben
wieder auf seinen Platz verwiesen werden. Es wird auch nicht mit den
Demonstranten diskutiert, da man ja noch gewählt ist und man kann nur durch die
nächsten Wahlen aus dem Amt gewählt werden kann.
In Brasilien waren soziale Missstände, wie die Erhöhung der Bustarife und
die Korruptionsskandale, die vor dem Confed-Cup bekannt wurden, Auslöser für
die Massenproteste. Auch hier war die Polizei sehr schnell mit Wasserwerfen und
Gummigeschossen zur Stelle, wurde jedoch nach einem oder zwei Tagen von der
Regierung wieder gebremst und zur Mäßigung aufgerufen. Zwar gab es auch in
Brasilien weiterhin jeden Tag verletzte, aber die Gewalt hielt sich in Grenzen,
und das auf beiden Seiten. Dies dürfte zu einem großen Teil daran liegen, dass
die Präsidentin, Dilma Rousseff, sehr schnell auf die Wünsche und Forderungen
der Demonstranten eingegangen ist und die Organisatoren der Proteste zu sich
eingeladen hat. Anstatt auf Härte und Konfrontation setzte sie auf Verständnis
und Deeskalation. Diese Art der Politik wird mit Sicherheit nicht nur etlichen
Menschen das Leben gerettet habe, die sonst in den Protesten umgekommen wären,
sondern setzte auch ein sehr deutliches Zeichen an die brasilianische
Bevölkerung: Wir, die Regierung Brasiliens, nehmen euch ernst und sind uns
unserer Pflichten euch gegenüber durchaus bewusst. Für die brasilianische
Präsidentin gehören friedliche Demonstrationen also ganz offensichtlich zu
einer funktionierenden Demokratie dazu. Auch die Tatsache, dass sie kurz nach
den ersten heftigen Protesten einen „großen Pakt“ für ein besseres Brasilien
ankündigte bedeutet, unabhängig davon, ob er nun umgesetzt wird oder nicht,
dass sie die Wünsche der Demonstranten zumindest ernst nimmt. Hier wird ein
vitaleres und offeneres, ein direkteres Demokratieverständnis gelebt.
In Ägypten ist Präsident Mursi knapp ein Jahr nach seiner Wahl vom Militär
gestürzt worden. Auf den ersten Blick kann man das für einen einfachen Putsch
halten, aber bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass das Militär den Willen
eines großen Teiles der Bevölkerung sehr radikal umgesetzt hat. Schon einige
Tage vor dem ersten Jahrestag von Mursis Wahl begann eine Welle von großen und
teilweise auch gewalttätigen Protesten gegen ihn. Diese Proteste bekamen von Tag
zu Tag mehr Zulauf und am Jahrestag von Mursis Amtseinführung demonstrierten in
ganz Ägypten mehrere hunderttausend Menschen gegen ihn. Ihre Forderung, das
Mursi sein Amt aufgibt und es Neuwahlen gibt, wurden von Mursi abgelehnt, da er
schließlich für vier Jahre gewählt wurde. Dass das Militär den Willen eines
großen Teiles des Volkes nun so radikal und schnell umsetzt, ist nicht
unbedingt gut zu heißen, aber es wird so immerhin ein Neuanfang ermöglicht.
Brasilien, Türkei und Ägypten: Drei unterschiedliche Staaten mit drei
vollkommen unterschiedlichen Demokratieverständnissen. Und ein Vergleicht
dieser drei Staaten mit einem beliebigen anderen demokratischen Staat würde
noch viele weitere Unterschiede aufzeigen. Es ist also sehr deutlich zu
erkenne, dass es eigentlich gar keine genaue Definition davon gibt, was man
noch als Demokratie bezeichnen kann. Vielmehr ist es eher eine subjektive Angelegenheit,
die dem jeweiligen Beobachter eine Menge an Interpretationsfreiraum lässt. Und
es zeigt sich auch deutlich, dass eine Demokratie nur in den seltensten Fällen
wirklich demokratisch; eine echte Demokratie vielfach sogar vollkommen
unerwünscht ist. Außerdem ist es vielleicht auch mal interessant darüber
nachzudenken, dass Demokratien meistens nicht viel mit „Mehrheitsherrschaft“ zu
tun haben, ganz zu schweigen von „Volksherrschaft“.
Um Bundeskanzler in Deutschland zu werden, reicht eine einfache Mehrheit. Wenn
man nun 55 % der Stimmen hat, aber nur 70,78 % der Wahlbeteiligten wählen (
Wahlbeteiligung Bundestagswahl 2009) dann ist nicht wirklich eine Vertretung
der Mehrheit des Volkes. Beinah alle Demokratien weltweit, mit Ausnahme der
Länder, die eine Wahlpflicht haben, werden von Parteien regiert, die auch
gemeinsam nicht die Mehrheit des Volkes repräsentieren. Ob man dies gut oder
schlecht findet, ist einem selber überlassen. Auch lassen die meisten
Demokratien dem Volk nur wenige Möglichkeiten sich direkt an die Regierung zu
wenden. Volksentscheide auf Bundesebene sind nicht nur in Deutschland nicht
möglich. Und trotz allem funktioniert die Demokratie bei uns in Europa noch
ziemlich gut. Dass die Geburt dieser Art der Demokratie enorm schmerzhaft und
brutal war, haben die meisten von uns schon wieder vergessen. Dass im Rahmen
der französischen und anderen Revolutionen teilweise Ströme von Blut durch die
Straßen flossen, wird gerne wieder verdrängt. Wenn jetzt in Staaten wie Ägypten
oder Libyen nach einem oder zwei Jahren noch keine stabilen demokratischen
Strukturen entstanden sind, ist das für viele Menschen ein Zeichen dafür, dass
die vorherige Diktatur doch deutlich besser war. Sie sagen das, in dem Wissen,
dass es in ihrem Land gut zwei Jahrhunderte gedauert hat, bis es endgültig eine
praktikable Form der Demokratie gefunden hat.
Wir bezeichnen uns als Demokraten, aber sind wir wirklich „demokratisch“?
Haben wir verstanden, wie wir regiert werden, wie wir regieren? Können wir
wirklich von anderen Ländern verlangen, dass in wenigen Jahren hinzubekommen,
wofür wir Jahrhunderte benötigt haben? Wir
sind ganz schön komische Demokraten!
Alle Macht dem Volk!! - ??
Niemand kann dem Volk die Macht nehmen!