Heute vor 70 Jahren befreite die „Rote
Armee“ das Konzentrationslager Ausschwitz und das Vernichtungslager
Ausschwitz-Birkenau und beendet damit eines der grausamsten Kapitel des zweiten
Weltkrieges. Der Holocaust forderte insgesamt ungefähr 5,6 Millionen Opfer gut
ein Fünftel davon, 1,1 Millionen Menschen, wurden allein im Vernichtungslager
Ausschwitz-Birkenau ermordet.
Seit 1996 ist der 27. Januar der
bundesweit verankerte gesetzliche „Tag des Gedenkens an die Opfer des
Nationalsozialismus“ und seit 2005 ist dieser Tag auch der „Internationale Tag
des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“. Aus diesem Anlass wurde in
Deutschland heute nicht nur an allen öffentlichen eine Trauerbeflaggung
gehisst, sondern fanden auch unzählige Gedenkveranstaltungen, Vorträge und
Trauerzeremonien statt. Und aus diesem Anlass wurde wieder überall dieselbe
Frage gestellt: Warum?!
Kein Gespräch mit Überlebenden,
keine Trauerrede und keine Talkshow kommt ohne die Frage nach dem „Warum“ des
Holocaust aus. Und trotzdem wird nie eine Antwort auf diese Frage gefunden. In
meinen Augen liegt das daran, dass es einfach die falsche Frage ist. Anstatt nach
dem „Warum?“ zu fragen, müsste man vielmehr für das „Warum nicht?“
argumentieren!
Auch wenn es auf den ersten
Moment vielleicht kontraintuitiv ist, so gibt es in meinen Augen sehr gute
Gründe dafür, sich nicht auf das „Warum?“ zu stürzen. Denn „Warum?“ fragt man
nur, wenn man einen dezidierten Auslöser sucht - einen Grund, der nicht auf den
ersten Blick zu erkennen ist. In diesem Fall eben den Anlass für den grundlosen
Massenmord an über 5 Millionen Menschen.
Ich behaupte aber, dass es in gewisser Weise einfacher ist 5 Millionen Menschen
zu ermorden, als einen anderen Menschen am Leben zu lassen. Denn morden ist
für den Menschen nichts Neues ist, während hingegen Toleranz eine verhältnismäßig
moderne Errungenschaft ist.
Die Geschichte des Menschen ist eine
Geschichte des Kriegs. Spätestens seit der Erfindung der Steinwerkzeuge, also
vor ca. 2,5 Millionen Jahren, werden waffentaugliche Geräte bei nahezu jeder
Ausgrabung gefunden, die auf eine menschliche Siedlung gestoßen ist. Was in
Anbetracht der Tatsache, dass diese frühen Menschen in einer mit Feinden
überfüllten Natur lebten, nur verständlich ist. Jede Weiterentwicklung in der
menschlichen Kultur wurde auch von der Weiterentwicklung der Waffen begleitet
und es gibt eine Menge an Hinweisen darauf, dass schon die Steinzeitmenschen
sich untereinander bekämpft haben. Denn nur wenn ich eine homogene Gruppe
bilde, mich also nach Außen abkapsle und nach Innen über eine Ideologie der
Überlegenheit einen starken Zusammenhalt schaffe, bin ich in einer unglaublich
gefährlichen Welt überlebensfähig. Diese Strategie des abkapseln nach Außen und
des Beschwörens einer „übermächtigen“ Idee oder Identität scheint unglaublich tief
in der menschlichen Psyche verankert zu sein – so gut wie keine Religion, kein
Clan und kein Herrscherhaus kommt ohne sie aus. Und wenn man sich die großen
Gesellschaftssysteme der Neuzeit anguckt, so sind sie alle im Grunde auf dasselbe
Prinzip zurückzuführen. Egal ob Kommunismus, Kapitalismus oder Chavismus. Immer
wird der Zusammenhalt beschworen, da das eigene Konzept „den Anderen“ Überlegen
ist und „die Anderen“ ausgrenzt, weil sie das eigene Konzept doch nur zerstören
wollen.
Wenn dieses System der
Ausgrenzung doch so sehr im Menschen verankert sein soll, quasi als seine „natürliche“
Art ist mit anderen Menschen umzugehen, warum sehen wir davon kaum noch was?
Warum bringen wir uns in unserer mittlerweile sehr heterogenen Gesellschaft nicht
alle gegenseitig um? Der Grund dafür dürfte eines der interessantesten und
wichtigsten Kapitel in der Geschichte Mitteleuropas sein: Das Zeitalter der Aufklärung.
Die Zeit der Aufklärung begann
mit Ende des 17. Jahrhunderts und Endete irgendwann zu Beginn des 19.
Jahrhunderts, wobei seine Hochphase in den Wirren der französischen Revolution
um 1780 lag. Als Aufklärung bezeichnet man den Glauben daran, dass man alle
Probleme durch eine rationale Analyse beheben kann, man bediente sich dabei der
sogenannten „kritischen Vernunft“. Auch wenn gerade die Französische Revolution
ein sehr blutiges Kapitel war, so war es doch das Kapitel, welches dazu führte,
dass Gewalt nicht nur im öffentlichen Diskurs, sondern auch als Mittel der zwischenstaatlichen
Problemlösung geächtet wurde. Zwar gab
es auch Aufklärer, die das Konzept des „gerechten Krieges“ weiterhin befürworteten,
aber im Großen und Ganzen wurde über diese Zeit der Grundstein für die
Gewaltfreiheit im Umgang untereinander gelegt. Das Europa im Moment auch das
friedlichste Kapitel seit jeher erlebt dürfte zu einem guten Teil an der Vorarbeit
der Aufklärung liegen. Gewalt als Mittel gegen andere Meinungen, Gruppen oder
Staaten ist also erst im Zuge einer Rationalisierung des menschlichen
Verhaltens geächtet worden. Und was hat das ganze jetzt mit dem Holocaust zu
tun?
Die Ideologie des
Nationalsozialismus hatte und hat eine enorme Anziehungskraft, weil sie eine
sehr starke Identifikation mit einer starken Führerpersönlichkeit und eine
sichere Position im „reinen“ Volk schafft. Damit es dazu kommen kann, muss sich
diese Ideologie natürlich radikal von allem „unreinen“ abgrenzen. Im dritten Reich
waren die Juden zwar die hauptsächlichen, aber nicht die alleinigen Opfer.
Neben Millionen von Juden wurde alles ermordet, war nicht in das Konzept eines „nationalsozialistisch
reinen Volkes“ passte, also Homosexuelle, Sinti und Roma, Behinderte, psychisch
kranke und natürlich alle, die zu laut gegen dieses System waren. Und wie im
obigen Text dargelegt, musste es gar keinen eindeutigen Auslöser für dieses
brutale Morden geben, es war quasi ein „Nebeneffekt“ dieser mächtigen und
menschenverachtenden Ideologie. Wenn man Berichte von Personen liest, die in irgendeiner
Weise an der Durchführung des Holocaust beteiligt waren, so findet man dort
selten Hass auf die ermordeten. Oft sahen sich diese Personen einfach dem „Führer“
oder seinen direkten Untergebenen verpflichtet und „erledigten“ ihre „Aufgabe“
aus diesem Pflichtgefühl heraus. Schließlich wollte man ja nicht gegen den Nationalsozialismus
sein. Deshalb sollten wir nicht unsere Zeit darauf verwenden den Auslöser für
den Holocaust zu suchen, sondern probieren an den demokratischen und
freiheitlichen Errungenschaften unserer Gesellschaft festzuhalten und diese
auch gegen Wiederstände zu verteidigen. Denn der „Nebeneffekt“ von Freiheit ist
Heterogenität, der größte Feind von menschenverachtenden Ideologien.
Zum Schluss noch kurz ein
persönliches Erlebnis, was mich dazu bewogen hat mir dieses Thema mal von einer
anderen Seite anzugucken. Vor einigen Jahren wurde zu mir in die Schule ein
Holocaustüberlebender eingeladen, der uns einen kurzen Bericht über seine
Erlebnisse während dieser Zeit gab. Als der Vortrag zu Ende war, ging ich zu
ihm und fragte ihn völlig naiv, wie eine Person denn nur so „böse“ sein kann,
dass sie freiwillig zu hunderten und tausenden vollkommen hilflose Menschen ermordet.
Seine einfach Antwort darauf war: „Wenn Menschen bösen sein dürfen, sind sie
dies auch“. Im weiteren Gespräch stellte ich ihm die zweite klassische Frage:
Ob er glaube, dass ein Genozid auch von dieser Generation wieder begangen
werden könnte. Er meinte sinngemäß dazu, dass wenn heute ein neuer, charismatischer
„Führer“ auf der Straße stehen würde, sich in wenigen Jahren die Geschichte
wiederholen würde. Er war sich sicher, dass lediglich eine freie und heterogene
Gesellschaft, die für das Individuum deutlich mehr bieten muss als eine
Massenideologie wie der Nationalsozialismus, einen erneuten Genozid verhindern
kann.
Dieses Gespräch und das Auftreten
von dieser Person, die durch die Hölle gegangen war und trotzdem noch eine positive
Grundeinstellung hatte, waren für mich in gewisser Weise prägend. Wir sind die
letzte Generation, die noch direkt von den letzten Überlebenden etwas erfahren kann
– wir sollten dies nutzen!
Ideologien nehmen Leben
-
Freiheit schafft Leben