Sonntag, 16. Dezember 2012

Der Mann und sein Klavier



Er zupfte sich noch einmal seine Fliege zurecht, dann legte er auch seine linke Hand auf das Klavier und begann zu spielen. Die ersten paar Sekunden noch ein wenig zögerlich, dann schloss er die Augen und ließ die Musik fließen. Seine Gedanken wurde zu Musik, sein Herz schlug Musik, durch seine Adern floss Musik. Er hatte als erstes Stück ein verhältnismäßig leichtes, aktuelles Lied aus den Charts ausgesucht und schon nach kurzer Zeit hörte er im Publikum einige Personen, die leise den Namen des Stückes flüsterten. Als er den richtigen Namen des Stückes hörte, war auf seinen ruhigen, ebenmäßigen Gesichtszügen ein kurzes Lächeln zu sehen. Zwar war dies nicht die Musik, die er bevorzugt spielte, aber wenn man auf einem Weihnachtsmarkt Menschen anzulocken wollte, musste man erst einmal mit etwas bekanntem anfangen. Immer mehr Menschen drängelten sich in die Nähe der Musik und probierten wenigstens einen Blick auf den Spieler zu erhaschen. Die Personen, die weiter vorne Standen sahen einen Mann, der vermutlich Mitte bis Ende dreißig war und einen Zylinder trug, unter dem einige tiefschwarze Haare hervorguckten. Der Mann sah ein wenig so aus, als ob er durch eine spontane Zeitverschiebung aus dem frühen 19. Jahrhundert direkt mitten in die Fußgängerzone einer Großstadt des 21. Jahrhunderts versetzt wurde. Der Korpus des Klaviers schien aus Ebenholz gefertigt zu sein und das schlichte Schwarz schien fast schon mit dem Schwarz des Fracks zu verschmelzen. Die einzige Verzierung auf dem Korpus war ein Ornament, dass aus zwei sich umschlingenden Rosen bestand und mittig auf jedem Seitenstück prangte. Um lauter zu klingen hatte der Mann vor dem spielen sowohl die Abdeckung oberhalb als auch unterhalb der Klaviatur abgenommen, sodass man direkt auf die Mechanik gucken konnte. Das Klavier stand auf einer Art großen Rollbrett, damit der Mann es durch die Fußgängerzone schieben konnte und nicht immer an der gleichen Stelle bleiben musste. Während die meiste Zuschauer übersahen, dass der Mann dünne, weiße Handschuhe trug, so bemerkten sie alle ausnahmslos, dass seinen Hals eine blutrote Fliege zierte. Während die meisten Zuschauer dies für eine persönliche Marotte des Straßenmusikers hielten, so wendeten ein paar andere ihre Blicke regelrecht entsetzt ab und beschleunigten ihre Schritte.

Die Schallwellen des Klaviers hallten durch die Fußgängerzone, prallte an den langen Glasfronten der Kaufhäuser ab und verbreitete sich weiter. Inzwischen hatte der Mann sein erstes Stück beendet und war für einen kurzen Moment völlig in sich versunken. Ein verzagter Applaus begann und er richtete sich wieder auf, streckte kurz seine Finger und begann erneut. Diesmal jedoch kein Stück aus den Charts, sondern etwas selbstkomponierte. Er nannte das Stück, eine Art Requiem, „Last of the many“, aber er hielt es nicht für notwendig es dem Publikum vorzustellen. Sie würden es schon begreifen, wenn die Zeit dafür gekommen war. Im Gegensatz zu seinem ersten Stück begann er jetzt selbstbewusst und energiegeladen. Die Musik, die durch seine Adern floss, begann auch seine Hände und Füße in Musik zu verwandeln. Sie bewegten sich vollkommen elegant, scheinbar ohne Anstrengung oder Steuerung. Die langsame, traurige, aber dennoch energiegeladene Melodie begann sich in der Fußgängerzone auszubreiten und beruhigte die vorweihnachtliche Hektik der Menschen. Sie blieben stehen und lauschten gebannt, wenn auch meist nur für einen kurzen Moment, einer Melodie, die nach Sehnsucht klang. Wenn sie dann weitergingen war in ihren Köpfen Ruhe eingekehrt und ihre Herzen schlugen etwas weniger schnell. Eine angenehme Atmosphäre bereitete sich um den Pianisten herum aus und der Kreis der Zuhörer wurde schnell immer größer. Noch immer hatte der Mann in dem schwarzen Frack die Augen geschlossen und wiegte sich im Einklang mit der Melodie. Er öffnete sie auch nicht, als er dieses Stück beendet hatte und mit dem nächsten Begann. In der kurzen Pause zwischen zwei Stücken sackte er lediglich etwas in sich zusammen und schien sich geistig auf die neue Melodie vorzubereiten. Er spielte noch drei weitere Stücke, zwei davon waren Filmmusik, eines war selbstkomponiert, dann hielt er inne und öffnete die Augen. Während ihm nach seinem ersten Stück nur ein spärlicher Applaus zuteil wurde, konnte sich dieser Applaus wirklich sehen lassen. Nachdem er einige Sekunden inne gehalten hatte, stand er von seinem Hocker auf und verbeugte sich nach allen Seiten. Der große Zylinder verdeckte dabei sein Gesicht, die Zuschauer, die einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen konnten, sahen dort eine groteske Mischung aus größtem Glück und endloser Traurigkeit. Dann stellte den Hocker auf das Rollbrett unter dem Klavier und schob es weiter, um an einem anderen Ort der Fußgängerzone Musik zu verbreiten. Die Menschenmenge zerstreute sich langsam wieder und jeder ging seinen Weg, allerdings deutlich ruhiger, glücklicher und beschwingter als er zuvor war.

Ein kleines Mädchen blieb jedoch leise weinend zurück. Nachdem ihre Mutter, die in der Zuschauermenge weiter hinten gestanden hatte, sie auf den Arm nahm, drückte ihr das Mädchen ein zwei Euro Stück in die Hand und vergrub sein Gesicht schluchzend ihn ihre Wange. „Der Mann hatte gar keinen Hut rumgehen lassen…“ Das kleine Mädchen verstand die Welt nicht mehr. Es hatte doch so gerne das Geld in den lustigen Zylinder schmeißen wollen.

Den gesamten Tag zog der Mann mit seinem Klavier durch die Fußgängerzone der Stadt, spielte einige Zeit, verbeugte sich dann und zog dann weiter. Überall wo er war verbreitete er Ruhe und Gelassenheit. Als er in der Nähe eines Glühweinstandes spielte, kam am Ende seines Spiels der Besitzer auf ihn zu und bot ihm an, sich doch ein wenig zu wärmen. Dankend nahm der Mann das Angebot an, blieb jedoch nicht lange und spielte schon kurz darauf wieder an einer anderen Stelle der Stadt. Am Morgen, als er angefangen hatte, waren die Temperaturen zwar noch relativ warm gewesen, aber im Laufe des Nachmittags wurde es empfindlich kalt. Immer wieder rieb der Mann seine Hände nun in den Spielpausen und bewegte seine Finger, damit sie nicht auf einmal in der Kälte erstarren. Als der klare, wolkenlose Himmel sich langsam rot färbte und die Außenthermometer an den Apotheken und Banken nun Minusgrade anzeigten, machte sich der Mann auf zu seinem letzen Spiel.

Er suchte sich eine relativ enge Stelle innerhalb der Fußgängerzone aus, die jedoch von zwei Galerie-Eingängen gekreuzt wurden. Sorgfältig positionierte er das Klavier, rückte den Hocker vorsichtig ein wenig hin und her, bis er passend stand und schüttelte noch einmal seine klammen Finger aus. Dann begann er zu spielen. Dieses letzte Mal begann er nicht mit einem Stück aus den Charts, sonder fing sofort mit seinen eigenen Kompositionen an. In seine ersten paar Takte schlich sich der eine oder andere Fehler ein, da die Kälte schon tief in seinen Fingern saß, aber schon ein paar Takte weiter war er wieder vollkommen in seinem Element. Die Musik in seinen Adern, seinem Herz und seinem Kopf brannte und schon nach kurzer Zeit waren auch seine Finger nicht mehr kalt. Anstatt nach dem ersten Stück eine Pause zu machen, begann er in den letzten fünf Takten eine Überleitung zum nächsten Stück und spielte weiter. Seine anfangs noch etwas zurückhaltenden Bewegungen wurden jetzt immer ausholender, für die Zuschauer schien es fast so, als ob sein Körper die Musik dirigieren würde. Die Lautstärke und das Tempo seiner Musik steigerte sich nun von Stück zu Stück. Von den Geräuschen der Zuschauer erreichte ihn nichts mehr. Der gesamte Lärm des Weihnachtsmarktes war ausgeblendet. Für ihn gab es nur noch seine Musik. Die Intensität seiner Stücke steigerte sich noch ein wenig. Sein Bewusstsein hatte die Kontrolle über ihn völlig abgegeben. Nun steuerten nur noch seine Emotionen. Er spielte regelrecht in einem Rausch. Dann ließ er sein letztes Stück ausklingen und hielt einen Moment lang inne. Diesmal sackte er nicht in sich zusammen, sondern richtete sich auf, streckte seinen Rücken und hob seinen Kopf. Dann legte er seine Hände auf die Klaviatur und räusperte sich kurz „ Das nächste Stück ist das letzte für heute Abend. Es heißt „Requiem for a dream“. Genießen sie es!“ Einige Zuschauer waren etwas irritiert, da er, während er dies sagte, seine Augen noch geschlossen hatte. Als er seine Augen mit dem ersten Ton öffnete, sah lediglich ein fünfjähriger Junge hinein. Er sah sie für einen kurzen Augenblick, doch der reichte aus um ihn sofort hinter seiner Mutter herlaufen zu lassen, die schon weitergegangen war. Die eigentlich schwarz-braunen Augen des Pianisten schienen zu brennen. In ihnen loderte das Feuer der Musik, in Verbund mit der Flamme der Verzweiflung.

Das Stück begann mit leisen, vereinzelten Tönen, nur unterbrochen von einem ständig wiederkehrenden lauten Bass-Ton. Doch anstatt sich in der weite der Straße zu verlieren, schien der Klang in ihr intensiviert zu werden. Als er Mann dann zum ersten Crescendo des Stückes kam, lies er den klang so gefühlvoll und kräftig anschwellen, dass der Eindruck entstand, es müssen wenigstens zwei Klaviere das Stück spielen. Der anschließenden Wechsel zum erneuten Piano wurde fast schon erleichtert begrüßt, dennoch sehnte sich das Publikum nach dem nächsten Crescendo, nach dem nächsten Mal, an dem ihre Seelen klangen. In den kurzen Pausen des Stückes hörte man kein Geräusch mehr. Das Publikum war verstummt, verzaubert und hörte völlig gebannt auf den verklingenden Klang, in gespannter Erwartung auf den neuen Ton. Bei seinem letzten Crescendo schienen die Augen des Mannes zu glühen. Seine Finger und die Tasten waren eine Einheit geworden und es war, als ob die Tasten bei jeder Berührung funken wurden. Er konnte sich in diesem Stück nicht mehr verspielen, er war das Stück geworden. Nach der letzten Pause begann er zum letzten Mal die Melodie zu spielen. Ganz leise und verhalten; sie klang nach Trauer, Sehnsucht und unerfüllten Träumen. Der Mann genoss die letzten Sekunden seines Rausches, er ließ seine Emotionen die Töne zaubern und gab sich ein letztes Mal ganz der Melodie hin. Der letzte Ton des Stückes klang, obwohl er sehr leise gespielt wurde, noch einige Zeit nach, da eine fast absolute Stille unter den Zuschauern herrschte. In diesem Ton lag eine ganz besondere Tragik, die das Herz der ein oder anderen Person für einen kurzen Moment erzittern ließ. Dann, als er endgültig verklungen war, brach der Beifall los.
  
Der Mann schaute ins Publikum und lächelte. Er griff in seine Tasche. Er drückte einen Knopf. Er verschwand in einer großen Explosion.

Am nächsten Tag berichteten alle Zeitungen in Deutschland von dem „Attentäter-Pianisten“, nannten die Totenzahlen, sprachen von „50 Kilo TNT-Äquivalent“ und fragen sich nach dem Grund.

In der kleinen Wohnung den Mannes lag mittig auf den Notenpult in seinem Wohnzimmer ein gelber  Din A4 Zettel. Er war mit roter Tinte beschriftet:

Entschuldigung
Mit diesem Schreiben möchte ich mit bei allen Opfern und Familien der Opfer für meine Tat entschuldigen. Ich erwarte kein Verständnis für meine Tat, ich würde sie selber nicht verstehen. Aber ich wollte ein Zeichen setzten, und damit eine so unbedeutende Person wie ich ein Zeichen setzen kann, muss sie leider etwas grausames tun.

Ich bin in allen Musikhäusern abgelehnt worden, weil ich nicht perfekt war, weil ich „falsche“ betonte. Aber wie kann man ein Stück falsch betonen. Lebt ein Stück nicht erst durch die Emotionen des Spielers? Kann nicht jeder Spieler etwas anderes dabei fühlen? In unserer Gesellschaft ist dies anscheinend nicht der Fall! Und meine Kompositionen wollte auch keiner haben, sie seien zu exzentrisch, zu anders. Dabei habe ich Menschen mit meiner Musik verzaubert. Ich habe sie mit einem Lächeln in ihrem Gesicht aus meinen Vorspielen gehen gesehen. Aber das zählt nicht. Das Einzige was zählt sind Fakten und Leistung, die an bestimmten Maßstäben gemessen wird. Für Kreativität ist in dieser Welt anscheinend kein Platz

Immer wird Perfektion und maximale Leistung verlangt. Wer dies nicht liefern kann, fällt aus dem Rahmen, verliert seinen Rückhalt, wird isoliert. Unterstützung findet so eine Person natürlich auch nicht, da man sich nicht mit solchen „Verlieren“ abgeben sollte. Das ist schließlich schlecht für den Ruf!
Ich hoffe, dass in Zukunft mehr darauf geachtet wird, wer die Personen sind, die hinter den Leistungen stehen; was für Charaktere hinter den guten Noten stehen. Ich hoffe, dass irgendwann auch die Einstellung und die Güte einer Person gesehen werden, und nicht nur seine Leistung. Ich hoffe auf eine Gesellschaft die asoziales und egozentrisches Verhalten bestraft und nicht- wie zur Zeit- fördert. Ich hoffe auf eine Politik, die soziales Engagement und nicht auf pures Gewinnstreben belohnt.

Ich verbleibe voller Trauer für die von mir erzeugten Opfer. Dennoch wünsche ich einen gesegnete dritten Advent, eine frohe Adventszeit, ein schönes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr.

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