Er zupfte sich noch einmal seine Fliege zurecht, dann legte er auch seine
linke Hand auf das Klavier und begann zu spielen. Die ersten paar Sekunden noch
ein wenig zögerlich, dann schloss er die Augen und ließ die Musik fließen. Seine
Gedanken wurde zu Musik, sein Herz schlug Musik, durch seine Adern floss Musik.
Er hatte als erstes Stück ein verhältnismäßig leichtes, aktuelles Lied aus den
Charts ausgesucht und schon nach kurzer Zeit hörte er im Publikum einige
Personen, die leise den Namen des Stückes flüsterten. Als er den richtigen Namen
des Stückes hörte, war auf seinen ruhigen, ebenmäßigen Gesichtszügen ein kurzes
Lächeln zu sehen. Zwar war dies nicht die Musik, die er bevorzugt spielte, aber
wenn man auf einem Weihnachtsmarkt Menschen anzulocken wollte, musste man erst
einmal mit etwas bekanntem anfangen. Immer mehr Menschen drängelten sich in die
Nähe der Musik und probierten wenigstens einen Blick auf den Spieler zu
erhaschen. Die Personen, die weiter vorne Standen sahen einen Mann, der vermutlich
Mitte bis Ende dreißig war und einen Zylinder trug, unter dem einige tiefschwarze
Haare hervorguckten. Der Mann sah ein wenig so aus, als ob er durch eine
spontane Zeitverschiebung aus dem frühen 19. Jahrhundert direkt mitten in die
Fußgängerzone einer Großstadt des 21. Jahrhunderts versetzt wurde. Der Korpus
des Klaviers schien aus Ebenholz gefertigt zu sein und das schlichte Schwarz
schien fast schon mit dem Schwarz des Fracks zu verschmelzen. Die einzige
Verzierung auf dem Korpus war ein Ornament, dass aus zwei sich umschlingenden
Rosen bestand und mittig auf jedem Seitenstück prangte. Um lauter zu klingen
hatte der Mann vor dem spielen sowohl die Abdeckung oberhalb als auch unterhalb
der Klaviatur abgenommen, sodass man direkt auf die Mechanik gucken konnte. Das
Klavier stand auf einer Art großen Rollbrett, damit der Mann es durch die
Fußgängerzone schieben konnte und nicht immer an der gleichen Stelle bleiben
musste. Während die meiste Zuschauer übersahen, dass der Mann dünne, weiße
Handschuhe trug, so bemerkten sie alle ausnahmslos, dass seinen Hals eine
blutrote Fliege zierte. Während die meisten Zuschauer dies für eine persönliche
Marotte des Straßenmusikers hielten, so wendeten ein paar andere ihre Blicke
regelrecht entsetzt ab und beschleunigten ihre Schritte.
Die Schallwellen des Klaviers hallten durch die Fußgängerzone, prallte an
den langen Glasfronten der Kaufhäuser ab und verbreitete sich weiter.
Inzwischen hatte der Mann sein erstes Stück beendet und war für einen kurzen
Moment völlig in sich versunken. Ein verzagter Applaus begann und er richtete
sich wieder auf, streckte kurz seine Finger und begann erneut. Diesmal jedoch
kein Stück aus den Charts, sondern etwas selbstkomponierte. Er nannte das Stück,
eine Art Requiem, „Last of the many“, aber er hielt es nicht für notwendig es
dem Publikum vorzustellen. Sie würden es schon begreifen, wenn die Zeit dafür
gekommen war. Im Gegensatz zu seinem ersten Stück begann er jetzt selbstbewusst
und energiegeladen. Die Musik, die durch seine Adern floss, begann auch seine
Hände und Füße in Musik zu verwandeln. Sie bewegten sich vollkommen elegant,
scheinbar ohne Anstrengung oder Steuerung. Die langsame, traurige, aber dennoch
energiegeladene Melodie begann sich in der Fußgängerzone auszubreiten und beruhigte
die vorweihnachtliche Hektik der Menschen. Sie blieben stehen und lauschten
gebannt, wenn auch meist nur für einen kurzen Moment, einer Melodie, die nach
Sehnsucht klang. Wenn sie dann weitergingen war in ihren Köpfen Ruhe eingekehrt
und ihre Herzen schlugen etwas weniger schnell. Eine angenehme Atmosphäre
bereitete sich um den Pianisten herum aus und der Kreis der Zuhörer wurde
schnell immer größer. Noch immer hatte der Mann in dem schwarzen Frack die
Augen geschlossen und wiegte sich im Einklang mit der Melodie. Er öffnete sie
auch nicht, als er dieses Stück beendet hatte und mit dem nächsten Begann. In
der kurzen Pause zwischen zwei Stücken sackte er lediglich etwas in sich
zusammen und schien sich geistig auf die neue Melodie vorzubereiten. Er spielte
noch drei weitere Stücke, zwei davon waren Filmmusik, eines war selbstkomponiert,
dann hielt er inne und öffnete die Augen. Während ihm nach seinem ersten Stück
nur ein spärlicher Applaus zuteil wurde, konnte sich dieser Applaus wirklich
sehen lassen. Nachdem er einige Sekunden inne gehalten hatte, stand er von
seinem Hocker auf und verbeugte sich nach allen Seiten. Der große Zylinder
verdeckte dabei sein Gesicht, die Zuschauer, die einen kurzen Blick auf sein
Gesicht werfen konnten, sahen dort eine groteske Mischung aus größtem Glück und
endloser Traurigkeit. Dann stellte den Hocker auf das Rollbrett unter dem
Klavier und schob es weiter, um an einem anderen Ort der Fußgängerzone Musik zu
verbreiten. Die Menschenmenge zerstreute sich langsam wieder und jeder ging
seinen Weg, allerdings deutlich ruhiger, glücklicher und beschwingter als er
zuvor war.
Ein kleines Mädchen blieb jedoch leise weinend zurück. Nachdem ihre Mutter,
die in der Zuschauermenge weiter hinten gestanden hatte, sie auf den Arm nahm,
drückte ihr das Mädchen ein zwei Euro Stück in die Hand und vergrub sein
Gesicht schluchzend ihn ihre Wange. „Der Mann hatte gar keinen Hut rumgehen
lassen…“ Das kleine Mädchen verstand die Welt nicht mehr. Es hatte doch so
gerne das Geld in den lustigen Zylinder schmeißen wollen.
Den gesamten Tag zog der Mann mit seinem Klavier durch die Fußgängerzone
der Stadt, spielte einige Zeit, verbeugte sich dann und zog dann weiter.
Überall wo er war verbreitete er Ruhe und Gelassenheit. Als er in der Nähe
eines Glühweinstandes spielte, kam am Ende seines Spiels der Besitzer auf ihn
zu und bot ihm an, sich doch ein wenig zu wärmen. Dankend nahm der Mann das
Angebot an, blieb jedoch nicht lange und spielte schon kurz darauf wieder an einer
anderen Stelle der Stadt. Am Morgen, als er angefangen hatte, waren die
Temperaturen zwar noch relativ warm gewesen, aber im Laufe des Nachmittags
wurde es empfindlich kalt. Immer wieder rieb der Mann seine Hände nun in den
Spielpausen und bewegte seine Finger, damit sie nicht auf einmal in der Kälte
erstarren. Als der klare, wolkenlose Himmel sich langsam rot färbte und die Außenthermometer
an den Apotheken und Banken nun Minusgrade anzeigten, machte sich der Mann auf
zu seinem letzen Spiel.
Er suchte sich eine relativ enge Stelle innerhalb der Fußgängerzone aus,
die jedoch von zwei Galerie-Eingängen gekreuzt wurden. Sorgfältig positionierte
er das Klavier, rückte den Hocker vorsichtig ein wenig hin und her, bis er
passend stand und schüttelte noch einmal seine klammen Finger aus. Dann begann
er zu spielen. Dieses letzte Mal begann er nicht mit einem Stück aus den
Charts, sonder fing sofort mit seinen eigenen Kompositionen an. In seine ersten
paar Takte schlich sich der eine oder andere Fehler ein, da die Kälte schon
tief in seinen Fingern saß, aber schon ein paar Takte weiter war er wieder
vollkommen in seinem Element. Die Musik in seinen Adern, seinem Herz und seinem
Kopf brannte und schon nach kurzer Zeit waren auch seine Finger nicht mehr kalt.
Anstatt nach dem ersten Stück eine Pause zu machen, begann er in den letzten
fünf Takten eine Überleitung zum nächsten Stück und spielte weiter. Seine
anfangs noch etwas zurückhaltenden Bewegungen wurden jetzt immer ausholender,
für die Zuschauer schien es fast so, als ob sein Körper die Musik dirigieren
würde. Die Lautstärke und das Tempo seiner Musik steigerte sich nun von Stück
zu Stück. Von den Geräuschen der Zuschauer erreichte ihn nichts mehr. Der
gesamte Lärm des Weihnachtsmarktes war ausgeblendet. Für ihn gab es nur noch
seine Musik. Die Intensität seiner Stücke steigerte sich noch ein wenig. Sein
Bewusstsein hatte die Kontrolle über ihn völlig abgegeben. Nun steuerten nur
noch seine Emotionen. Er spielte regelrecht in einem Rausch. Dann ließ er sein
letztes Stück ausklingen und hielt einen Moment lang inne. Diesmal sackte er
nicht in sich zusammen, sondern richtete sich auf, streckte seinen Rücken und
hob seinen Kopf. Dann legte er seine Hände auf die Klaviatur und räusperte sich
kurz „ Das nächste Stück ist das letzte für heute Abend. Es heißt „Requiem for
a dream“. Genießen sie es!“ Einige Zuschauer waren etwas irritiert, da er,
während er dies sagte, seine Augen noch geschlossen hatte. Als er seine Augen
mit dem ersten Ton öffnete, sah lediglich ein fünfjähriger Junge hinein. Er sah
sie für einen kurzen Augenblick, doch der reichte aus um ihn sofort hinter
seiner Mutter herlaufen zu lassen, die schon weitergegangen war. Die eigentlich
schwarz-braunen Augen des Pianisten schienen zu brennen. In ihnen loderte das
Feuer der Musik, in Verbund mit der Flamme der Verzweiflung.
Das Stück begann mit leisen, vereinzelten Tönen, nur unterbrochen von einem
ständig wiederkehrenden lauten Bass-Ton. Doch anstatt sich in der weite der
Straße zu verlieren, schien der Klang in ihr intensiviert zu werden. Als er
Mann dann zum ersten Crescendo des Stückes kam, lies er den klang so gefühlvoll
und kräftig anschwellen, dass der Eindruck entstand, es müssen wenigstens zwei
Klaviere das Stück spielen. Der anschließenden Wechsel zum erneuten Piano wurde
fast schon erleichtert begrüßt, dennoch sehnte sich das Publikum nach dem
nächsten Crescendo, nach dem nächsten Mal, an dem ihre Seelen klangen. In den
kurzen Pausen des Stückes hörte man kein Geräusch mehr. Das Publikum war
verstummt, verzaubert und hörte völlig gebannt auf den verklingenden Klang, in
gespannter Erwartung auf den neuen Ton. Bei seinem letzten Crescendo schienen
die Augen des Mannes zu glühen. Seine Finger und die Tasten waren eine Einheit
geworden und es war, als ob die Tasten bei jeder Berührung funken wurden. Er
konnte sich in diesem Stück nicht mehr verspielen, er war das Stück geworden.
Nach der letzten Pause begann er zum letzten Mal die Melodie zu spielen. Ganz
leise und verhalten; sie klang nach Trauer, Sehnsucht und unerfüllten Träumen. Der
Mann genoss die letzten Sekunden seines Rausches, er ließ seine Emotionen die
Töne zaubern und gab sich ein letztes Mal ganz der Melodie hin. Der letzte Ton
des Stückes klang, obwohl er sehr leise gespielt wurde, noch einige Zeit nach,
da eine fast absolute Stille unter den Zuschauern herrschte. In diesem Ton lag
eine ganz besondere Tragik, die das Herz der ein oder anderen Person für einen
kurzen Moment erzittern ließ. Dann, als er endgültig verklungen war, brach der
Beifall los.
Der Mann schaute ins Publikum und
lächelte. Er griff in seine Tasche. Er drückte einen Knopf. Er verschwand in
einer großen Explosion.
Am nächsten Tag berichteten alle Zeitungen in Deutschland von dem „Attentäter-Pianisten“,
nannten die Totenzahlen, sprachen von „50 Kilo TNT-Äquivalent“ und fragen sich
nach dem Grund.
In der kleinen Wohnung den Mannes lag mittig auf den Notenpult in seinem
Wohnzimmer ein gelber Din A4 Zettel. Er
war mit roter Tinte beschriftet:
Entschuldigung
Mit diesem Schreiben möchte ich mit
bei allen Opfern und Familien der Opfer für meine Tat entschuldigen. Ich
erwarte kein Verständnis für meine Tat, ich würde sie selber nicht verstehen.
Aber ich wollte ein Zeichen setzten, und damit eine so unbedeutende Person wie
ich ein Zeichen setzen kann, muss sie leider etwas grausames tun.
Ich bin in allen Musikhäusern abgelehnt worden, weil ich nicht
perfekt war, weil ich „falsche“ betonte. Aber wie kann man ein Stück falsch
betonen. Lebt ein Stück nicht erst durch die Emotionen des Spielers? Kann nicht
jeder Spieler etwas anderes dabei fühlen? In unserer Gesellschaft ist dies
anscheinend nicht der Fall! Und meine Kompositionen wollte auch keiner haben,
sie seien zu exzentrisch, zu anders. Dabei habe ich Menschen mit meiner Musik
verzaubert. Ich habe sie mit einem Lächeln in ihrem Gesicht aus meinen
Vorspielen gehen gesehen. Aber das zählt nicht. Das Einzige was zählt sind
Fakten und Leistung, die an bestimmten Maßstäben gemessen wird. Für Kreativität
ist in dieser Welt anscheinend kein Platz
Immer wird Perfektion und maximale
Leistung verlangt. Wer dies nicht liefern kann, fällt aus dem Rahmen, verliert seinen
Rückhalt, wird isoliert. Unterstützung findet so eine Person natürlich auch
nicht, da man sich nicht mit solchen „Verlieren“ abgeben sollte. Das ist
schließlich schlecht für den Ruf!
Ich hoffe, dass in Zukunft mehr
darauf geachtet wird, wer die Personen sind, die hinter den Leistungen stehen; was
für Charaktere hinter den guten Noten stehen. Ich hoffe, dass irgendwann auch
die Einstellung und die Güte einer Person gesehen werden, und nicht nur seine
Leistung. Ich hoffe auf eine Gesellschaft die asoziales und egozentrisches
Verhalten bestraft und nicht- wie zur Zeit- fördert. Ich hoffe auf eine
Politik, die soziales Engagement und nicht auf pures Gewinnstreben belohnt.
Ich verbleibe voller Trauer für die
von mir erzeugten Opfer. Dennoch wünsche ich einen gesegnete dritten Advent,
eine frohe Adventszeit, ein schönes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr.
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