Es hat mich wirklich geschockt, als ich diese Kommentare gelesen habe und
habe angefangen darüber nachzudenken, ob wir es überhaupt noch verdienen in
einer Demokratie zu leben. Geht es uns vielleicht schon viel zu gut? Die letzte
Diktatur (in Westdeutschland) liegt nun schon über 60 Jahre zurück und sehr
viele Menschen, die sie bewusst erlebt haben, sind schon tot. Vielleicht ist es
ein natürlicher Prozess in der Geschichte, dass der Mensch so dumm ist, dass er
es nicht schafft über längere Zeit in einer Demokratie zu überleben. Vielleicht
benötigt jede zweite Generation eine Diktatur, damit sie ihren Kindern wieder
die Vorzüge einer Demokratie beibringen können. Kann es wirklich sein, dass
Freiheit auf Dauer dazu führt, dass man sich wieder Unfreiheit wünscht? Kann es
wirklich sein, dass wir unsere so hoch gelobte Menschlichkeit eigentlich schon
lange verloren haben und nur noch dann für sie eintreten, wenn es uns gerade
passt? Der folgende Kommentar aus der „Berliner Morgenpost“ scheint dies zu
bestätigen: „Was soll das Pseudogeheul???
Jeglicher menschlicher und religiöser Anstand verbietet es, in einem Gotteshaus
solch eine Show abzuziehen.“ Selbst
wenn es jeglicher Anstand verbieten sollte, so eine Aktion in einem Gotteshaus
zu veranstalten, so sollte es auch der Anstand gebieten, dass die Bestrafung
verhältnismäßig ausfällt. Zwei Jahre in einem Arbeitslager für ein wenig freie
Meinungsäußerung und eine Provokation ist unter keinen Umständen angemessen.
Vielleicht würde es dem Autor dieses Kommentar helfen, wenn er selber einmal
für eine Woche in einem russischen Arbeitslager sitzen würde. Wenn er dann
immer noch der Meinung ist, dass dies eine angemessene Bestrafung ist, sollte
er sich vielleicht lieber ein diktatorisch regiertes Land ziehen. Das gleiche
sollte auch dieser Kommentator machen. „Das
Straflager ist wichtigster Teil der Strategie. Andere Künstler rackern sich
Jahrzehnte den Buckel ab. Pussy Riot sitzten zwei Jahre und werden eine Mega
Karriere danach machen. Respekt.“ Vielleicht hat er nicht verstanden, dass
sich ein Gefängnis in Deutschland erheblich von einem Straflager in Russland
unterscheidet. Und schon in deutschen Gefängnissen gehört Gewalt zur Tagesordnung.
Es wird diesen Künstlern nur nachrangig um Publicity gegangen sein, da sie
selber zugegeben haben, dass sie lediglich mit einer Geldstrafe gerechnet
hatten. Wenn man unbedingt Werbung für sich braucht, dann würde man so eine
Aktion eher während einer Rede von Putin veranstalten.
Der folgende Kommentar steht stellvertretend für eine Vielzahl an weiteren
rechtspositivistischen Kommentaren: „Die
verteidiger von freiheit und menschenrechten aber finden es gaanz schlimm, dass
nun die russische justiz, ein - gemessen am eigentlich siebenjährigen strafmass
mildes - urteil auf dem boden der gesetze dieses unabhängigen staates gefällt
hat.“ Meist wurde dann noch darauf hingewiesen, dass man auch in
Deutschland für so einen Auftritt mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden
kann. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Sämtliche Kommentatoren, die
diese Auffassung haben, müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, „Rechtspositivisten“
zu sein. Dies beschreibt eine Denkweise in der Philosophie, in der das geltende
Recht als „richtig“ oder „gut“ anerkannt wird. Und wenn ein anderer Staat
dieses Gesetzt auch noch hat, ist doch alles in Butter, oder etwa nicht?
Während des zweiten Weltkrieges gab es in fast ganz Europa Gesetze, die Juden
zu „unwertem Leben“ erklärt haben. Waren diese Gesetze etwa gerecht!? Man kann
nicht einfach das Rechtsystem eines Staates für „gerecht“ erklären, ohne sich
Gedanken darüber zu machen, ob es überhaupt ethisch vertretbar ist. Und das ist
es in diesem Fall nicht! Außerdem hinkt der Vergleich mit Deutschland gewaltig.
Wenn heute eine Aktionsgruppe eine deutsche Kirche stürmen würde und sich dort
gut eine Minute gegen Frau Merkel aussprechen würde, wäre ich mir noch nicht
einmal sicher, ob sie dafür überhaupt belangt werden würden.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist sehr wichtig und sollte auch
genutzt werden. Natürlich kann man es übertreiben und ich würde es für
akzeptabel halten, wenn die drei Frauen zu einer Geldstrafe verurteilt würden,
aber alles andere geht weit über das vertretbare Maß hinaus. Außerdem ist der
Vorwurf, ihr Auftritt hätte die Gläubigen „in ihren Gefühlen verletzt“
absoluter Schwachsinn. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich die einige
Gläubige tatsächlich in ihren Gefühlen verletzt gefühlt haben, aber das ist
noch lange kein Grund für eine Anklage. Wenn mir ein erwachsener Mensch
ernsthaft erklären will, dass die Erde gerade einmal 5000 Jahre alt ist, fühle
ich mich auch in meinen Gefühlen verletzt. Aber habe ich deshalb das Recht diese
Person anzuklagen? Nein! Erst wenn er sich mir ständig aufdrängt und mir gegen
meinen erklärten Willen seine Theorie erläutern will, habe ich einen Grund
dafür. Und das ist bei diesem Protestauftritt nicht passiert. Es ist wie im
Mittelalter, wenn man „Gotteslästerung“ unter Strafe stellt und deshalb haben
solche „Strafbestände“ in unseren Zeiten nichts mehr verloren. Auch sehe ich
nicht ein, warum in einer Kirche großartige Sonderrechte gelten sollten.
Natürlich ist, vor allem bei Kathedralen oder bei einem Dom, das Gebäude aufgrund
seines Alters und seiner Bauart etwas ganz besonderes. Und natürlich gibt es in
diesen Gebäuden Menschen, die glauben, dass ihr Gott ihnen dort ganz nahe ist.
Aber trotzdem ist es schwachsinnig Aktionen innerhalb einer Kirche mit einem
deutlich stärkeren Strafmaß als außerhalb zu belegen.
Es bleibt zu hoffen, dass die Kommentare unter den Artikeln über die Band „Pussy
Riot“ nicht die Meinung des gesamten deutschen Volkes wiederspiegeln. Falls dem
so wäre, dann würde ich anfangen, mir ernsthaft Gedanken über unsere Demokratie
zu machen. Denn unter diesen Umständen wird sie nicht mehr sehr lange zu leben
haben. Vielleicht sind diese Sorgen auch vollkommen unbegründet und die
Kommentare kommen von einer Gruppe an Menschen, die dringend Aufmerksamkeit
benötigen und diese über solche Kommentare auch bekommen. Ich hoffe wirklich,
dass die meisten dieser Kommentare von solchen Personen stammen, den sonst….
Den Einwurf, der Hintergrund ihres Auftretens war allein der Wunsch, schnell berühmt zu werden, halte ich für absolut lächerlich. Das hätten sie auch durch andere Dinge erreichen können, die kein derartiges Strafmaß nach sich gezogen hätten. Viel mehr denke ich, dass Pussy Riot aus Überzeugung diese provokanten Dinge unternimmt, um auf die bestehenden Missstände hinzuweisen. Und damit waren sie erfolgreich - allein schon, weil das Thema der "Demokratie" in Russland so wieder in den Schlagzeilen landete und Menschen weltweit zu Demonstrationen bewegte.
AntwortenLöschenWie es nach dem Straflager mit der Gruppe weitergeht und ob ihre Aktionen auch eine tatsächliche Wirkung auf die Regierung haben wird, ist noch nicht klar, doch ich hoffe sehr, dass es nicht vergeblich war. Dafür sollten wohl auch andere aktiv werden, nachdem ein Anfang gemacht wurde.
Weshalb ich andere schreibe? Weil ich selbst nicht den Mut hätte, derart offen mit einem solchen Risiko Protest zu demonstrieren. Anscheinend ist der Egoismus bei mir wie bei vielen anderen einfach viel zu groß.