Montag, 22. April 2013

Behinderungen als (sprachliche) Tatsache



„Im Rahmen einiger Umstellungen im Schulsystem in NRW, werden ab dem nächsten Schuljahr auch in unserer Schule behinderte Schüler aufgenommen werden“. So fing ein Textversuch einer Unterstufenschülerinn über die Umwandlung der Schule in eine sogenannte „integrative Schule“ an. Das dieser Anfang sofort, nachdem ihn die betreuende Lehrerinn gelesen hatte, wieder gelöscht wurde, stieß bei der Schülerinn auf ein gewisses Unverständnis. Sie verstand nicht, warum man den das Wort „behindert“ nicht benutzen durfte. Die Suche nach einer politischen korrekten Beschreibung gestaltete sich allerdings auch ein wenig schwierig. Aber was ist an dem Wort „behindert/behinderter“ eigentlich so schlimm?

Laut Duden ( dort steht das Wort auch noch ), ist ein behinderter jemand, der infolge einer körperlichen, geistigen oder psychischen Schädigung beeinträchtigt ist. Diese Definition beinhaltet eine sehr gute Beschreibung dafür, was eine Behinderung ausmacht: sie beeinträchtig! So banal wie diese Erkenntnis auch ist, so wichtig ist sie jedoch auch für den Gebrauch des Wortes „Behindert“. Eine Person, die aufgrund einer irgendwie gearteten Beeinträchtigung nicht zur Verrichtung einer Tätigkeiten, die der Durchschnitt der Gesellschaft verrichten kann, in der Lage ist, ist behindert. Es spielt dafür erst einmal überhaupt keine Rolle,  worin diese Beeinträchtigung liegt oder wodurch diese Beeinträchtigung entstanden ist. Außerdem ist, und dass wird von vielen Personen gerne bewusst übersehen, „behindert“ keine Wertung, sondern lediglich eine Zustandsbeschreibung; also etwas wertneutrales. Bevor dieser Punkt, der viele Diskussionsmöglichkeiten bietet, genauer behandelt wird, sollte noch einmal geklärt werden, was überhaupt der Durchschnitt der Gesellschaft ist und wer alles behindert sein kann. Denn diese beiden Punkte spielen bei einer korrekten Definition von „behindert“ eine große Rolle.

Als Gegenteil von „behindert“ wird einem manchmal das Wort „gesund“ genannt. Das Problem am Wort „gesund“ ist jedoch, dass es sehr schwer zu definieren ist. Ist ein Mensch, der von Geburt an keine Arme besitzt, nicht eigentlich auch Gesund, da es für ihn normal ist, ohne Arme zu leben? Eine gute Annährung für die Definition des Gegenteils von „behindert“ sollte davon ausgehen, dass Behinderte in irgend einer Weise beeinträchtigt sind; sich also vom „normalen“ unterscheiden. Und da „normal“ in der Regel einen Mittelwert meint, kann der Mittelwert der in der Gesellschaft vertretenen Fähigkeiten gut als das Gegenteil von „behindert“ bezeichnet werden. Da der größte Teil unserer Gesellschaft gehen, schreiben, sprechen, hören, sehen und viele weitere Dinge kann, sind dies Attribute, über die eine „normale“ Person verfügen muss. Verfügt sie nicht über diese Attribute, so ist sie „behindert“. Ergibt es Sinn, wenn man diese Definition auf jedes Mitglied der Gesellschaft bezieht, unabhängig vom Alter?

Nach dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz könnte man nun jedes Mitglied unserer Gesellschaft an diesen „normierten“ Attributen messen und dann entscheiden, ob es behindert ist oder nicht. Es würde jedoch schnell zu Tage treten, dass Babies, Säuglinge und Kleinkinder dann auch behindert wären. An und für sich ist dies eine gut vertretbare These, die auch der Realität der Kindesentwicklung Rechnung trägt. Sie birgt jedoch ein Problem: Wenn man alle Kinder bis zu einem bestimmten Alter als behinderte bezeichnet, dann kann man Kinder, die im Vergleich zu den anderen wirklich eine Beeinträchtigung aufweisen, nicht mehr vernünftig differenzieren. Oder man müsste für sie eine andere Bezeichnung als für Erwachsene behinderte wählen und würde damit nur unnötige Verwirrung stiften. Die beste Lösung für dieses Problem ist wahrscheinlich, einfach dem Fakt Rechnung zu tragen, dass jede Person geboren wird, aber nicht jede Person alt wird.

Anders gesagt: Kinder entwickeln sich im Verlauf einiger Jahre zu einer Person, die über die „normierten“ Attribute verfügt und behalten diese im Idealfall dann ihr restliches Leben lang. Das Altern mit dem Verlust dieser Attribute ist kein Lebensabschnitt der zwangsläufig von jedem Menschen durchlaufen wird, und bedarf daher keiner besonderen Behandlung. Die Geburt, die jeder Mensch durchläuft, darf deshalb besonders betrachtet werden. Für Kleinkinder ist also der Vergleich mit den „normierten“ Attributen von seinen Altersgenossen interessant. Wobei hierbei natürlich die entwicklungsbedingten Spielräume beim Erwerb der Sprache oder des Laufens zu beachten sind. Man kann also kein festes Datum setzen, sonder nur eine Zeitspanne, in der das Attribut erlernt sein muss.  Dies bedeutet, dass ein neun Monate altes Kind, das noch nicht laufen kann, nicht als behindert bezeichnet werden kann, nur weil einige seiner Altersgenossen schon laufen können. Kann es mit zwei Jahren aber immer noch nicht laufen, kann man es als behindert bezeichnen. Es bedeutet jedoch auch, dass ein Kind, bei dem man beispielsweise weiß, dass es niemals sprechen lernen wird, mit sechs Monaten noch nicht behindert ist, da es zu diesem Zeitpunkt noch nicht sprechen können muss. Man kann kleine Kinder also nur dann als behinderte bezeichnen, wenn sie im Vergleich zu ihren Altersgenossen nicht über die „normierten“ Fähigkeiten verfügen. Nachdem nun geklärt ist, wer unter welchen Umständen als „behindert“ bezeichnet werden kann, geht es wieder zurück zum Anfang und darum, warum die Bezeichnung „behindert“ nicht schlimm ist.

Die Feststellung, dass eine Person oder man selber aufgrund des Fehlens oder der Einschränkung eines bestimmten Attributes, behindert ist, ist vollständig wertneutral. Es ist eine einfache Tatsachenbeschreibung, die man nicht noch künstlich ideologisch aufladen sollte. Wenn jemand das Wort „behindert“ bewusst als Schimpfwort benutzt, so ist die wahrscheinlich beste Reaktion darauf ein höfliches Nicken. Wenn es zutrifft, dass man behindert ist, so hat er nur das offensichtliche gesagt. Wenn das nicht zutrifft, sollte er sich vielleicht selber Gedanken über seine eigene geistige Leistungsfähigkeit machen. Warum gibt es überhaupt so einen großen Wiederstand dagegen, das Wort „behindert“ zu nutzen? Ausgehend von der Definition, dass alle Personen behindert sind, die über eine Einschränkung in einem oder mehreren „normierten“ Attributen verfügen, sind nämlich nicht nur die Personen „behindert“, die jeder bei diesem Ausdruck sofort vor Augen hat: Rollstuhlfahrer, blinde oder geistig behinderte. Es sind beispielsweise auch Personen behindert, die eine etwas stärkere Sehschwäche haben und ohne Brille im Alltag aufgeschmissen wären. Oder Legastheniker, die aufgrund ihrer Schreib-und/oder Leseschwäche im Alltag und Beruf oft auf Probleme stoßen.

Für mich ist die Beschreibung „behindert“ genauso schlimm und diskriminierend, wie die Beschreibung  „blond“, „rothaarig“, „groß“ oder „klein“. Man kann sich darüber aufregen, „auf ein Merkmal reduziert zu werden“, oder man akzeptiert das reale Problem, dass man Personen anhand von irgendwelchen Merkmalen unterscheiden und beschreiben muss. Vielleicht liegt mein, unter Umständen etwas naiver und politisch inkorrekter, Umgang mit dem Wort „behindert“ auch daran, dass ich behinderte kenne, die sich als solche bezeichnen, weil sie ganz eindeutig im Alltag behindert sind. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich mich selber dazu zähle, weil ich ohne meine Brille kaum noch Alltagsfähig bin. Ich würde das zwar als „leichte Behinderung“ bezeichnen, weil es genug Personen gibt, die deutlich stärkere Beeinträchtigungen haben, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Sehschwäche eine Behinderung ist. Ich glaube, dass ein etwas unverkrampfterer und rationalerer Umgang mit dem Wort „behindert“ einige Dinge in unserer Gesellschaft deutlich erleichtern würde. Und er würde die langwierige Suche nach politischen korrekten Wörtern endlich beenden.   

Eine Tatsache zu benennen bedeutet, 
sie ernst zu nehmen -
Eine Tatsache zu umschreiben bedeutet, 
sie zu verharmlosen !

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