Die warme Nachmittagssonne schien mit einem schon leicht
orange - gelben Licht auf die große Stadt und heizte die Betonschluchten mit
ihren Asphaltcanyons gehörig auf. Doch niemand beschwerte sich darüber, ganz im
Gegenteil. Die Personen auf der Straße lächelten einander zu, freuten sich über
die Sonne und genossen ihre freie Zeit auf den großen Wiesen in den Parks oder
an den Seen. Diese angenehme Leichtigkeit des Seins hatte auch die beiden
jungen Menschen erfasst, die gerade auf der Treppe eines Museums saßen. „Wer die Vergangenheit erkennt, vermag auch die Zukunft zu erkennen“, las das Mädchen laut
vor. Der Spruch stand auf einem Banner, das entlang der historischen Fassade
des Museums befestigt war und wurde umrandet von den Köpfen bedeutender
historischer Persönlichkeiten.
„Ein weiser Spruch“, stimmte der Junge, der
neben ihr saß, zu. „Und leider von viel zu wenig Personen beachtet und von noch
weniger ernst genommen“.
„Warum weise?“, wollte sie wissen.
„Lass uns aufstehen“, entgegnete er, „beim
Gehen kann ich besser denken“.
Sie stand auf und machte leichtfüßig einen
großen Satz über die beiden Stufen der Treppe, auf der sie saßen. Ihre langen,
kupferfarbenen Haare reflektierten lustig das Sonnenlicht und ließen ihre
Bewegung sehr fließend erscheinen. Der Junge warf noch einen dankbaren Blick in
Richtung des blauen, wolkenfreien Himmels, bevor er auch aufstand und die
beiden Stufen hinuntersprang.
„Also,“ fing er an. „Jede unserer Handlungen
hat ja irgendeinen Grund. Lassen wir einmal alle reflexbedingten Handlungen und
alle instinktiven Handlugen, wobei die Gründe für diese Handlungen einfach nur
sehr weit in der Vergangenheit liegen, beiseite, so gibt es für jede Handlung
einen Grund.“
„Das sagtest du bereits“, unterbrach sie ihn
lachend. „Aber das bringt mich mit meiner Frage nicht weiter“.
„Ich wollte das nur noch einmal deutlich
machen, damit es auch wirklich verstanden ist“, meinte er neckisch. Sie knuffte
ihn zur Antwort bloß in die Seite. „Schon in der Formulierung dieser „Regel“
zeigt sich, dass „Grund“ und „Handlung“ maximal zeitgleich stattfinden können,
jedoch kann niemals die „Handlung“ vor dem „Grund“ stattfinden. Denn dann müsste
es ja heißen „Jede Handlung wird
einen Grund haben“. Aber ist es überhaupt möglich, dass der „Grund“ für eine
„Handlung“ zeitgleich mit der Handlung stattfindet? Ich denke nicht. Denn damit
es von einem „Grund“ zu einer „Handlung“ kommt, muss erst eine „Bewertung“ und
eine „Reaktion“, also eine „Prozessierung“ erfolgen. Dies bedeutet, dass der
„Grund“ von einem „Sensor“ detektiert werden muss, damit er dann weiter von
einer verarbeitenden Einheit, also in diesem Fall unserem Gehirn, verarbeitet
werden kann. Und da manche von uns eine besonders „lange Leitung“ haben“, er
warf einen belustigten Blick auf sie, „ist es ja schon eine Binsenweisheit,
dass die „Handlung“ immer erst nach dem „Grund“ erfolgen kann.“
Sie hatten seinen Blick gesehen und gewartet,
bis er seinen Bandwurmsatz zu Ende gebracht hatte. „Längere Leitung bei
gleichem Volumen gleich mehr Gehirnwindungen pro Volumen gleich besseres
Gedächtnis“ konterte sie. „Aber deine Argumentation klingt interessant. Du
willst also darauf hinaus, dass wir für jede Handlung einen Grund aus der
Vergangenheit benötigen. Das ist schön und gut. Aber warum sollten wir dann
durch die Vergangenheit unsere Zukunft kennen? Du hast jetzt einfach
kausal-deterministisch argumentiert. Daraus hat sich jetzt nicht ergeben, dass
wir die Zukunft durch die Vergangenheit kennen, sondern nur, dass die
Vergangenheit die Grundlage für die Zukunft ist. Was ja nichts neues ist –
actio-reactio sollte man irgendwann mal gehört haben. Aber eine Kugel kennt ja
auch nicht ihren Weg, wenn sie eine schräge Ebene hinunter rollte. Sie rollt
zwar, weil sie angestoßen wurde, aber das „Anstoßen“ versetzt sie nicht in die
Lage ihren weiteren Weg zu kennen und dementsprechend „kennt“ sie auch die
Zukunft nicht wirklich. Warum sollten wir dann die Zukunft aus der
Vergangenheit kennen?“
Während sie sprach entdeckte er in ihren
Augen ein kleines Funkeln und meinte zu spüren, wie die Neuronen unter ihrer
Schädeldecke anfingen ein Feuerwerk abzubrennen. Sie hatte sich auf seine
Theorie eingeschossen, einen guten Treffer gelandet und jetzt war er wieder an
der Reihe seine Linien wieder zu schließen und das verlorene Gelände wieder
gutzumachen. Es war ein anregendes Spiel, bei dem keiner verlieren wollte und
sie waren beide ziemlich gut darin!
„Natürlich hast du recht mit deinem Punkt.
Das bloße Vorliegen eines „Grundes“ zeitlich vor der „Handlung“ bedeutet nicht
zwangsläufig, dass wir deshalb wissen, wie die „Handlung“ verläuft und wir
damit die Zukunft kennen würden. Aber du hast auch Unrecht. Denn wir entscheiden
uns in einem entscheidenden Punkt von der Kugel, die du als Beispiel genommen
hast: Wir sind biologische Systeme und zumindest prinzipiell erinnerungsfähig“.
„Du bildest dabei aber öfter mal die
glorreiche Ausnahme“, merkte sie grinsend an.
Er überging ihre Neckerei mit einem Lächeln und
fuhr fort. „Denn im Gegensatz zu der Kugel können wir den Weg der Kugel, je
nach Datenlage, mit einer sehr hohen Genauigkeit vorhersagen. Im Idealfall
könnten wir das sogar zu 100%. Der Grund dafür sind die verschiedenen
physikalischen Formeln, die das Verhalten von trägen Materialen, von fallenden
Körpern etc. beschreiben und zum Teil schon vor zwei- oder dreihundert Jahren
aufgestellt wurden. Und das liegt nun wirklich deutlich in der Vergangenheit.
Diese Formeln sind wiederum aus langen Beobachtungsreihen entstanden. Kurz
gesagt: Alles, was wir sehen lässt sich mit der Physik nach Newton beschreiben.
Würden wir alle Variablen kennen, könnten wir das Verhalten von jedem Körper zu
jeder beliebigen Zeit vorhersagen. Und das alles nur dank „Gründen“, also
Formeln, aus der Vergangenheit!“ Bei seinen
letzten Sätzen glänzten seine Augen
und er machte eine weit ausholende Geste.
„Newton war schon ein ziemlich genialer
Mann“, stimmte sie ihm zu und wickelte eine Strähne ihrer Haare
gedankenverloren um ihren Zeigefinger. „Aber er war ein Physiker, er hat damit
nur das Verhalten von unbelebten Körpern beschrieben. Lebewesen hingegen zeigen
da doch ein etwas anderes, eigenwilligeres Verhalten. Mit Newton wirst du
partout nicht in der Lage sein zu erklären, warum meine Katze die Maus nur
beschnuppert und sich dann mit ihr das Futter teilt.“
„Oder, warum du gerade deine Haare verknotet
hast“, kommentierte er amüsiert ihren Versuch, die Haare wieder von dem Finger
abzuwickeln. „Aber du hast wieder Recht, die Physik verleiht uns nur die
Fähigkeit dank der Arbeit vergangener Genies die Zukunft von unbelebter Materie
zu kennen. Aber die Zukunft von Lebewesen lässt sich trotzdem auch durch die
Vergangenheit bestimmen. Was machst du wenn du Hunger hast?“
„Was essen!“ Sie guckte ihn etwas verwirrt
an, während sie immer noch mit dem Knoten in ihren Haaren kämpfte. „Was denn
sonst?“
„Und warum isst du?“ fragte er weiter und
beobachtete dabei ihr Gesicht. Im ersten Moment herrschte noch vollkommene
Verwirrung über diesen anscheinenden Themenwechsel in ihrem Gesicht vor. Ihre
leicht gerunzelten Augenbrauen und ihr langsames Blinzeln verrieten, dass sie
probierte den Sinn hinter dieser Frage zu verstehen. Dann hellte sich ihr
Gesicht wieder auf und ein Ausdruck der Begeisterung macht sich um ihren Mund
und ihre Augen breit.
„Du willst darauf hinaus, dass ich aus
Erfahrung, also aufgrund meiner Vergangenheit weiß, dass essen satt macht. Auch
diese einfache Handlung basiert also auf einer Extrapolation meiner
„Erlebnisse“ der Vergangenheit in die Zukunft.
Da das Hungergefühl auch in der Vergangenheit verschwunden ist, wenn ich
etwas gegessen habe, wird es wahrscheinlich auch in der Zukunft verschwinden. Das
gleiche gilt dann auch für alle anderen Erlebnisse, vom Üben für eine Prüfung
über das Erkennen von Gefahren bis hin zum sozialen Umgang mit anderen
Menschen. Immer handele ich so, wie es in der Vergangenheit schon zu für mich
positiven Ergebnissen geführt hat.“ Sie hielt kurz inne und warf einen Blick
auf die Haare in ihrer Hand. Sie hatten den Knoten endlich heraus bekommen und
strich die Strähne nun wieder glatt. Während ihre Hände automatisiert
handelten, dachte sie an die weiteren Implikationen dieser Idee. Das dezente
Grinsen, was ihren Mund meist umspielte, wuchs zu einem fröhlichen lachen
heran. „Du hattest Recht und auch wiederum nicht!“
„DAS musst du mir jetzt genauer erklären“
antwortete er interessiert. Sie hatte seine Idee offensichtlich besser
verstanden als er selber, da er keinen Fehler darin finden konnte.
„Naja, die Frage war ja, ob wir die Zukunft
über die Vergangenheit erkennen können. Das können wir aber auch nach der
gerade aufgestellten Theorie bei Lebewesen, wenn man mal alle „biologischen
Computer“ rauslässt, also alle Einzeller und instinktgesteuerten Lebewesen, nur
bedingt. Denn unser Verhalten in der Zukunft beruht nämlich nicht auf
unabänderlichen naturwissenschaftlichen Gesetzen, sondern auf
Wahrscheinlichkeiten!“ Sie sah an seinem
nachdenklichen Gesichtsausdruck, dass er probierte zu verstehen, wie sie darauf
gekommen ist. „Bei deinem Beispiel mit dem Hunger ist es noch alles so wie in
dem Beispiel mit der Kugel auf der schiefen Ebene. Wir kennen alle Parameter
und können dementsprechend das Ergebnis vorhersagen. Das Hungergefühl entsteht
unter anderem durch eine geringe Füllung des Magens und sobald der wieder
gefüllt wird, verschwindet es wieder. So weit, so einfach. Aber was ist mit
komplizierteren Handlungen? Angenommen ich würde mich hier nicht auskennen und
hätte mich verlaufen. In der Vergangenheit habe ich verschiedenen Methoden
kennen gelernt um mich wieder zu orientieren. Ich setzte jetzt einfach mal
voraus, du wärst ein Beobachter, der über all meine vergangenen Erfahrungen
Bescheid weiß. Könntest vorhersagen, was ich jetzt mache?“
„Wahrscheinlich nicht. Ich kenne dich zwar
schon seit Ewigkeiten und dürfte dementsprechend nicht nur die meisten deiner
Erfahrungen kennen, sondern habe zusätzlich noch recht gute Kenntnisse darüber,
wie du die Erfahrungen prozessierst und an neue Situationen adaptierst. Aber
auch mit diesem Wissen wäre ich nur in der Lage zu vermuten, wie deine nächste
Handlung aussieht. Bei vollständiger Kenntnis der Situation könnte ich zwar
eine ziemlich sichere Vermutung abgeben, aber es würde trotzdem
unterschiedliche Möglichkeiten mit jeweils unterschiedlichen
Wahrscheinlichkeiten geben. Du wärst vermutlich zu Stolz um irgendjemanden um
Rat zu fragen und würdest so lange in der Stadt umherirren, bis du einen
Stadtplan oder eine Straße, die dir bekannt vorkommt, gefunden hast.“ Diesen
kleinen Seitenhieb konnte er sich nicht verkneifen. Allerdings war er sehr
angetan von ihrer Schlussfolgerung, dass die Zukunft trotz guter Kenntnisse der
Situation und der vergangenen Erfahrungen nur mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden kann. Irgendwie schaffte sie es immer
wieder, dass er sich im Gegensatz zu ihr relativ ungebildet vorkam.
„ Nicht ganz“, konterte sie seine Neckerei.
„Ich würde vermutlich einfach mein Handy bemühen, das habe ich im Gegensatz zu
dir nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu Hause vergessen.“ Sein
schiefes Grinsen verriet ihr, das sie damit voll ins Schwarze getroffen hatte. „Wer
die Vergangenheit
erkennt, vermag auch die Zukunft zu erkennen“, wiederholte sie den Satz, der
die ganze Diskussion ausgelöst hatte, noch einmal langsam. Sie hatte wieder
angefangen mit ihren Haaren zu spielen und ein verträumter Ausdruck schlich
sich in ihr Gesicht. Der Ausspruch stimmte zwar nur mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit, aber im Großen und Ganzen war er doch nicht ganz falsch.
Vielleicht sollte man sich doch mehr mit der Geschichte beschäftigen, dachte
sie. Vielleicht würde das helfen, das Leben mit all seinen Tücken und Fallen
einfacher zu verstehen und viele Fehler einfach zu vermeiden. Die meisten
Fehler sind ja schließlich schon von anderen Menschen gemacht worden!
Sie hatten beide unbewusst einen kleinen Park
angesteuert, der an einen Teil des Stadtwaldes angrenzt. Die Sonne hing
mittlerweile schon Tief genug um hinter den Baumwipfeln zu verschwinden und
ließ ihr warm-oranges Licht durch die Baumreihen blitzen. Sie setzten sich
schweigend nebeneinander auf die Wiese und ließen dieses angenehme Licht auf
ihre Gesichter scheinen. Für einen kurzen Moment verschwamm die Welt um sie
herum und sie tauchten in ihrer Gedanken eiin. Dann verschwanden die
Sonnenstrahlen wieder zwischen den Bäumen und die restliche Welt gewann wieder
an Schärfe.
„Kleinkinder und Babys kennen auch keine
Zukunft, weil sie ja noch keine Erfahrungen, keine Vergangenheit haben“, ließ
sie in die Stille zwischen ihnen fallen. „Deshalb handeln sie oft
unvorhersehbar und man muss immer auf sie aufpassen. Sie leben sozusagen immer
im „hier und jetzt“, ganz im Gegensatz zu uns“. Ein klein wenig Wehmut mischte
sich in ihre Stimmte.
„Wenn Kleinkinder nur in der Gegenwart, im
„hier und jetzt“ leben können, leben wir dann eigentlich in der Vergangenheit?
Oder doch eher in der Zukunft?“ Er wirkte fast schon ein wenig verwirrt, an
diese Implikation hatte er noch gar nicht gedacht. Dass es in einem gewissen
Rahmen nicht nur möglich ist die Zukunft über die Vergangenheit vorherzusagen,
sondern dies eigentlich ständig im Alltag geschieht, warf eine Menge an neuen
Frage auf.
„Naja, weder noch“ meinte sie leichtmütig.
„Oder sowohl als auch, je nachdem wie du es sehen möchtest. Wir bedienen uns
eigentlich bei jeder unserer Tätigkeiten, jedem Gespräch, ja sogar jeder Geste
aus unserem Erfahrungsschatz. Da dieser eindeutig durch unsere Erlebnisse in
der Vergangenheit zustande gekommen ist, macht die Vergangenheit einen sehr
wichtigen Teil unserer „Gegenwart“ aus. Gleichzeitig überlegen wir, bewusst
oder unbewusst, was für Folgen unser Handeln für die Zukunft hat. Ich möchte
satt werden, also esse ich – um dein Beispiel noch einmal aufzugreifen. Und
auch dieses Mal steckt in der Formulierung schon eine sehr wichtige
Information: Das „werden“ bezieht sich auf die Zukunft, wir handeln also nicht
um unsere Situation in dieser Sekunde, sondern in gewisser Zeit zu verbessern.“
Im gleichen Maße wie sie ihre Argumentation aufbaute, zog ein düsterer Ausdruck
auf ihrem Gesicht auf. Nach ihrem letzten Wort sah sie in leicht verärgert an
„Wenn alles Vergangenheit oder Zukunft ist, was ist dann überhaupt das jetzt,
die Gegenwart?“ Sie hatte ein Gänseblümchen von der Wiese gepflückt und
zerrupfte es unruhig. „Sie muss es doch geben, wo leben sonst die Kleinkinder?“
Er musste aufgrund der Formulierung der
letzten Frage grinsen. „Zu Hause, denke ich mal.“ Auch seine Finger waren unruhig
und unbewusst fing er an einen großen Löwenzahn zu bearbeiten. „Aber eigentlich
ist das mit der Gegenwart recht einfach“, meinte er schließlich. „Prinzipiell
ist die Gegenwart immer der „Ist-Moment“, der eine weitere Handlung induziert.
Das Gefühl „Hunger“ ist ein „gegenwärtiges“ Gefühl. Der Schmerz, wenn du dich
schneidest, ist ein „gegenwärtiges“ Gefühl. Die bloße Tatsache, dass wir hier
sitzen ist Gegenwart. Aber immer nur für einen winzigen, nicht messbaren
Moment.“ Er verstummte kurz und sah auf die kläglichen Rest des Löwenzahns in
seinen Händen. Schnell warf er den Stiel weg und schnappte sich den nächsten.
Irgendwie beruhigte es ihn, wenn seine Hände etwas zu bearbeiten hatten,
während er dachte. Sie hatte inzwischen einen ganzen Haufen an Gänseblümchen
gefunden und daraus eine Kette gemacht. Es war faszinierend anzusehen, wie so
etwas Einfaches so schön aussehen konnte, dachte er. Sie hatte seinen Blick
bemerkt und hielt kurz inne in ihrer Arbeit, ein Armband aus den restlichen
Blümchen zu zaubern „Sieht nicht schlecht aus, oder?“
„Ganz und gar nicht!“ Doch das er seinen
Blick nicht von der Kette lösen konnte, lag nicht nur an ihrer schlichten
Eleganz. „Ich glaube, ich weiß jetzt, wie du dir die „Gegenwart“ vorstellen
kannst!“ Sie sah in interessiert an „Erzähl!“
„Stell dir vor dass jedes Gänseblümchen in
deiner Kette eine „Gegenwart“ ist. Wenn du jetzt ganz willkürlich ein
Gänseblümchen als „Jetzt“ bezeichnest und kurz mal die Zeit anhältst, sodass
das „Jetzt“ bestehen bleibt, ist der Rest ganz einfach. Alle Blümchen bis zu
dem „Jetzt“ sind dann „vergangene Gegenwart“ oder einfacher gesagt
„Vergangenheit“. Alle Blümchen nach dem „Jetzt“ sind dann „zukünftige
Gegenwart“ oder „Zukunft“. Du existierst also immer nur in der „Gegenwart“,
aber du wanderst auf ihr – oder mit ihr – aus Richtung „Vergangenheit“ in
Richtung „Zukunft“!
Sie hatte ihr Armband fertiggestellt und
probierte nun es über ihre Hand zu bekommen, ohne es dabei zu zerreißen. Nach
dem sie es ein paar Mal versucht hatte, seufzte sie einmal kurz, und streckte
sich um an ein weiteres Gänseblümchen zu kommen. „So wie du es beschreibst,
wäre dann aber die Zukunft schon vorhanden. Das ist ein sehr deterministischer
Gedanke. Und wie wir schon festgestellt hatten, ist zumindest das Verhalten der
Menschen nur zu einer bestimmten Wahrscheinlichkeit vorhersagbar. Es ist also
nicht nur eine mögliche Zukunft vorhanden, sondern nahezu endlos viele, da es
nahezu endlos viele verschiedene Handlungsmöglichkeiten der über sieben
Milliarden Menschen gibt. Das macht es uns unmöglich alle möglichen Varianten
der Zukunft zu kennen.“
"Und wie sieht es mit einem hypothetischen
Wesen aus, dass das Verhalten von allem mit Sicherheit kennt? Für so ein
Wesen würde meine Erklärung doch
gelten!“ Es war ein halbherziger Versuch von ihm sein schönes Beispiel zu
retten. Ihre Erklärung war argumentativ eindeutig die bessere, aber er wollte
seinem Beispiel mit der Kette zumindest einen letzten Rest an Sinn geben.
„Für so ein Wesen würde deine Erklärung
gelten,“ gestand sie ihm lachen zu. „Aber da wir leider nicht über solche
Eigenschaften verfügen, ist es für uns irrelevant wie die Zukunft mit solchen
Eigenschaften aussehen würde.“ Sie hatte das Armband endlich fertig gestellt
und begutachtete für einen kurzen Moment ihr Werk, bevor sie weitersprach. „Um
das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu beschreiben, eignet
sich wahrscheinlich eine Linie, die mit einem Kugelschreiber gezogen wird, am
besten. Die Vergangenheit, also der Strich, der schon existiert, ist fixiert
und lässt sich weder verändern noch vernichten. Die Gegenwart ist immer nur der
kleine Kopf der Mine, der ständig weiterwandert. Und die Zukunft ist das
gesamte freie Blatt vor dem Stift. Am wahrscheinlichsten ist natürlich eine
nahezu unveränderliche Weiterführung des vorherigen Teilstückes der Strecke,
aber es kann durchaus auch abrupt zu einer Kurve oder Ecke kommen. Fest steht
nur, dass, so lange es Zeit gibt, die Linie weiter gezogen wird.“
„Und das wir Menschen dann doch einen ganz
schönen Einfluss auf unsere direkte und spätere Zukunft haben können“ ergänzte
er zufrieden. „Es ist echt faszinierend, wie sehr wir durch Rekombination von
bekannten Sachen und ein klein wenig Neugierde immer wieder eine komplett neue
Zukunft schaffen. Dabei liegt lediglich unsere Existenz in der Gegenwart,
während unser Denken und Handeln irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft
pendelt.“ Die letzten Reste der Sonne waren jetzt vollständig hinter den Bäumen
verschwunden und es wurde langsam ein wenig kühl. Sie sahen sich beide kurz an
und standen auf.
„Dass du jetzt auch aufstehst, hätte ich
vorhersagen können“ meinte sie fröhlich. „Aber viel besser als das ist die
Erkenntnis, dass es zwar normalerweise nahezu unmöglich ist, das Verhalten von
Einzelpersonen in der Zukunft vorherzusagen, aber es verhältnismäßig gut geht,
das Verhalten von großen Gruppen, Populationen, Staaten und Ethnien bei
ausreichender Kenntnis der Geschichte und der gegenwärtigen Situation
vorherzusagen.“
Ein Augenblick sah er sie verdutzt, dann fing
er an zu lachen. „Wenn du dich ab jetzt immer so ausdrückst, verkaufe ich dich
als „lebendes Wikipedia“!
„Dann halte ich mich in Zukunft wohl wieder
besser zurück – auch, um deinen Ego zu schonen und dir nicht immer zu zeigen,
dass ich doch mehr weiß als du.“
„Das wäre noch zu beweisen“, gab er zurück.
Sie verließen den kleinen Park wieder und sobald sie das kleine Waldstück weit
genug hinter sich gelassen hatte, schien ihnen die mittlerweile fast
untergegangene Sonne mit ihren letzten Strahlen wieder ins Gesicht. Es war ein
schöner Sommerabend und sie genossen den Augenblick dieser einfachen
Leichtigkeit des Seins.
Vergangene Zukunft - Zukünftige Vergangenheit