Dienstag, 27. Januar 2015

Warum Menschen Menschen töten



Heute vor 70 Jahren befreite die „Rote Armee“ das Konzentrationslager Ausschwitz und das Vernichtungslager Ausschwitz-Birkenau und beendet damit eines der grausamsten Kapitel des zweiten Weltkrieges. Der Holocaust forderte insgesamt ungefähr 5,6 Millionen Opfer gut ein Fünftel davon, 1,1 Millionen Menschen, wurden allein im Vernichtungslager Ausschwitz-Birkenau ermordet.
Seit 1996 ist der 27. Januar der bundesweit verankerte gesetzliche „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ und seit 2005 ist dieser Tag auch der „Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“. Aus diesem Anlass wurde in Deutschland heute nicht nur an allen öffentlichen eine Trauerbeflaggung gehisst, sondern fanden auch unzählige Gedenkveranstaltungen, Vorträge und Trauerzeremonien statt. Und aus diesem Anlass wurde wieder überall dieselbe Frage gestellt: Warum?!

Kein Gespräch mit Überlebenden, keine Trauerrede und keine Talkshow kommt ohne die Frage nach dem „Warum“ des Holocaust aus. Und trotzdem wird nie eine Antwort auf diese Frage gefunden. In meinen Augen liegt das daran, dass es einfach die falsche Frage ist. Anstatt nach dem „Warum?“ zu fragen, müsste man vielmehr für das „Warum nicht?“ argumentieren!

Auch wenn es auf den ersten Moment vielleicht kontraintuitiv ist, so gibt es in meinen Augen sehr gute Gründe dafür, sich nicht auf das „Warum?“ zu stürzen. Denn „Warum?“ fragt man nur, wenn man einen dezidierten Auslöser sucht - einen Grund, der nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist. In diesem Fall eben den Anlass für den grundlosen Massenmord an über 5 Millionen Menschen. Ich behaupte aber, dass es in gewisser Weise einfacher ist 5 Millionen Menschen zu ermorden, als einen anderen Menschen am Leben zu lassen. Denn morden ist für den Menschen nichts Neues ist, während hingegen Toleranz eine verhältnismäßig moderne Errungenschaft ist.  

Die Geschichte des Menschen ist eine Geschichte des Kriegs. Spätestens seit der Erfindung der Steinwerkzeuge, also vor ca. 2,5 Millionen Jahren, werden waffentaugliche Geräte bei nahezu jeder Ausgrabung gefunden, die auf eine menschliche Siedlung gestoßen ist. Was in Anbetracht der Tatsache, dass diese frühen Menschen in einer mit Feinden überfüllten Natur lebten, nur verständlich ist. Jede Weiterentwicklung in der menschlichen Kultur wurde auch von der Weiterentwicklung der Waffen begleitet und es gibt eine Menge an Hinweisen darauf, dass schon die Steinzeitmenschen sich untereinander bekämpft haben. Denn nur wenn ich eine homogene Gruppe bilde, mich also nach Außen abkapsle und nach Innen über eine Ideologie der Überlegenheit einen starken Zusammenhalt schaffe, bin ich in einer unglaublich gefährlichen Welt überlebensfähig. Diese Strategie des abkapseln nach Außen und des Beschwörens einer „übermächtigen“ Idee oder Identität scheint unglaublich tief in der menschlichen Psyche verankert zu sein – so gut wie keine Religion, kein Clan und kein Herrscherhaus kommt ohne sie aus. Und wenn man sich die großen Gesellschaftssysteme der Neuzeit anguckt, so sind sie alle im Grunde auf dasselbe Prinzip zurückzuführen. Egal ob Kommunismus, Kapitalismus oder Chavismus. Immer wird der Zusammenhalt beschworen, da das eigene Konzept „den Anderen“ Überlegen ist und „die Anderen“ ausgrenzt, weil sie das eigene Konzept doch nur zerstören wollen.

Wenn dieses System der Ausgrenzung doch so sehr im Menschen verankert sein soll, quasi als seine „natürliche“ Art ist mit anderen Menschen umzugehen, warum sehen wir davon kaum noch was? Warum bringen wir uns in unserer mittlerweile sehr heterogenen Gesellschaft nicht alle gegenseitig um? Der Grund dafür dürfte eines der interessantesten und wichtigsten Kapitel in der Geschichte Mitteleuropas sein: Das Zeitalter der Aufklärung.

Die Zeit der Aufklärung begann mit Ende des 17. Jahrhunderts und Endete irgendwann zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wobei seine Hochphase in den Wirren der französischen Revolution um 1780 lag. Als Aufklärung bezeichnet man den Glauben daran, dass man alle Probleme durch eine rationale Analyse beheben kann, man bediente sich dabei der sogenannten „kritischen Vernunft“. Auch wenn gerade die Französische Revolution ein sehr blutiges Kapitel war, so war es doch das Kapitel, welches dazu führte, dass Gewalt nicht nur im öffentlichen Diskurs, sondern auch als Mittel der zwischenstaatlichen Problemlösung  geächtet wurde. Zwar gab es auch Aufklärer, die das Konzept des „gerechten Krieges“ weiterhin befürworteten, aber im Großen und Ganzen wurde über diese Zeit der Grundstein für die Gewaltfreiheit im Umgang untereinander gelegt. Das Europa im Moment auch das friedlichste Kapitel seit jeher erlebt dürfte zu einem guten Teil an der Vorarbeit der Aufklärung liegen. Gewalt als Mittel gegen andere Meinungen, Gruppen oder Staaten ist also erst im Zuge einer Rationalisierung des menschlichen Verhaltens geächtet worden. Und was hat das ganze jetzt mit dem Holocaust zu tun?

Die Ideologie des Nationalsozialismus hatte und hat eine enorme Anziehungskraft, weil sie eine sehr starke Identifikation mit einer starken Führerpersönlichkeit und eine sichere Position im „reinen“ Volk schafft. Damit es dazu kommen kann, muss sich diese Ideologie natürlich radikal von allem „unreinen“ abgrenzen. Im dritten Reich waren die Juden zwar die hauptsächlichen, aber nicht die alleinigen Opfer. Neben Millionen von Juden wurde alles ermordet, war nicht in das Konzept eines „nationalsozialistisch reinen Volkes“ passte, also Homosexuelle, Sinti und Roma, Behinderte, psychisch kranke und natürlich alle, die zu laut gegen dieses System waren. Und wie im obigen Text dargelegt, musste es gar keinen eindeutigen Auslöser für dieses brutale Morden geben, es war quasi ein „Nebeneffekt“ dieser mächtigen und menschenverachtenden Ideologie. Wenn man Berichte von Personen liest, die in irgendeiner Weise an der Durchführung des Holocaust beteiligt waren, so findet man dort selten Hass auf die ermordeten. Oft sahen sich diese Personen einfach dem „Führer“ oder seinen direkten Untergebenen verpflichtet und „erledigten“ ihre „Aufgabe“ aus diesem Pflichtgefühl heraus. Schließlich wollte man ja nicht gegen den Nationalsozialismus sein. Deshalb sollten wir nicht unsere Zeit darauf verwenden den Auslöser für den Holocaust zu suchen, sondern probieren an den demokratischen und freiheitlichen Errungenschaften unserer Gesellschaft festzuhalten und diese auch gegen Wiederstände zu verteidigen. Denn der „Nebeneffekt“ von Freiheit ist Heterogenität, der größte Feind von menschenverachtenden Ideologien.

Zum Schluss noch kurz ein persönliches Erlebnis, was mich dazu bewogen hat mir dieses Thema mal von einer anderen Seite anzugucken. Vor einigen Jahren wurde zu mir in die Schule ein Holocaustüberlebender eingeladen, der uns einen kurzen Bericht über seine Erlebnisse während dieser Zeit gab. Als der Vortrag zu Ende war, ging ich zu ihm und fragte ihn völlig naiv, wie eine Person denn nur so „böse“ sein kann, dass sie freiwillig zu hunderten und tausenden vollkommen hilflose Menschen ermordet. Seine einfach Antwort darauf war: „Wenn Menschen bösen sein dürfen, sind sie dies auch“. Im weiteren Gespräch stellte ich ihm die zweite klassische Frage: Ob er glaube, dass ein Genozid auch von dieser Generation wieder begangen werden könnte. Er meinte sinngemäß dazu, dass wenn heute ein neuer, charismatischer „Führer“ auf der Straße stehen würde, sich in wenigen Jahren die Geschichte wiederholen würde. Er war sich sicher, dass lediglich eine freie und heterogene Gesellschaft, die für das Individuum deutlich mehr bieten muss als eine Massenideologie wie der Nationalsozialismus, einen erneuten Genozid verhindern kann.

Dieses Gespräch und das Auftreten von dieser Person, die durch die Hölle gegangen war und trotzdem noch eine positive Grundeinstellung hatte, waren für mich in gewisser Weise prägend. Wir sind die letzte Generation, die noch direkt von den letzten Überlebenden etwas erfahren kann – wir sollten dies nutzen!

Ideologien nehmen Leben
-
Freiheit schafft Leben

Sonntag, 18. Januar 2015

Von der Information zur Bildung



Bildung als „wertvollstes Gut“, als „Wohlstandsgarant oder als „Integrationsmeister“. Bildung ist ein Thema, das Generationen- und Kontextübergreifend Personen beschäftigt und zu dem nahezu jeder eine eigene Meinung hat. Bildung ist aber auch etwas, das anscheinend ständig knapp ist. In der Politik ist es im Moment modern über die Förderung der MINT-Fächer und die Frauenbildung zu reden. Außerdem bemühen sich nicht nur Politiker verschiedenster Couleur, sondern auch viele zivilgesellschaftliche Gruppen um „Integration durch Bildung“. Bildung scheint also vieles Gleichzeitig zu sein und wird dementsprechend gerne auf verschiedenste Arten definiert. Um sich nicht in der Vielzahl der Definitionen und der daraus resultierenden Problemen zu verlieren, ist es für eine Analyse des Themas „Bildung“ sinnvoll, sich auf ein spezielles Thema zu konzentrieren. Da Schulbildung wahrscheinlich das ist, was den meisten Personen in Bezug auf den Begriff „Bildung“ einfällt, soll sich dieser Text etwas mit dem Bildungsbegriff in diesem Kontext und den grundsätzlichen Vorteilen und Problemen der momentanen Art und Weise der Schulbildung beschäftigen.

Auch wenn die Vorstellungen von verschiedenen Personen und Interessensgruppen in Bezug auf die Bildung, die die Schule vermitteln soll, aufgrund der mittlerweile stark diversifizierten Ausrichtungen der verschiedenen Schulmodelle sicherlich deutlich divergieren, so lässt sich doch folgender Satz als Grundsatz nehmen: Schule soll die Kinder und Jugendlichen sowohl sozial als auch intellektuell auf das „nachschulische“ Leben vorbereiten. Wie das „nachschulische“ Leben aussieht, sei es ein Studium, eine Ausbildung oder eine Zeit als Selbstständiger, hängt mit Sicherheit stark von der jeweiligen Schulform ab, aber das hat eigentlich keinen großen Einfluss auf die grundsätzliche Idee davon, was grundlegend für Bildung und wie diese Grundbildung vermittelt werden muss.

Ich habe bis jetzt Bewusst den Ausdruck „Bildung“ und nicht „Wissen“ benutzt, da es sich lohnt eine klare Differenzierung beider Wörter zu beachten. „Bildung“ ist sozial-kulturell-intradisziplinär kontextualisiertes „Wissen“ und somit „wertvoller“ als bloßes Wissen. Und genau diese Differenzierung wirft ein grelles Licht auf eines der größten Probleme in den meisten Schulformen.
Die Schule ist in den Augen einer großen Anzahl an Personen der Ort, an dem Wissen vermittelt wird. Im Mathematik-Unterricht wird „Mathe-Wissen“ angesammelt, im Chemie-Unterricht „Chemie-Wissen“ und in Musik „Musik-Wissen“. Die verschiedenen „Geschmacksrichtungen“ des Wissens werden getrennt unterrichtet und oft nur in einen losen Kontext zueinander gesetzt. Natürlich ist dies in vielen Situationen notwendig, vor allem wenn es um die Vermittlung von grundlegenden Wissen geht. In vielen Fällen wäre jedoch ein deutlich vernetzteres Arbeiten sinnvoll. Das Argument, dass man ja auch nicht verschiedene Eissorten mischt, weil das nicht schmeckt, wird zwar gerne gebracht, ist aber zu kurz gedacht. Um den Schüler nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern sie tatsächlich zu bilden, ist es notwendig, dass sie ihr Wissen kontextualisieren. Dies geschieht in vielen Fällen schon von ganz alleine, aber wenn dieses Verknüpfen von Wissen ein obligatorisches Element im Schulalltag wäre, so würde deutlich weniger Wissen verloren gehen. Um dies umzusetzen, bedarf es zwar an vielen Stellen einer Feinanpassung des Unterrichts, aber im Großen und Ganzen wäre es ohne deutlichen Mehraufwand umsetzbar. So könnte beispielsweise ein Teil der naturwissenschaftlichen Unterrichtsstunden für interdisziplinäre Projekte verwendet werden. Und Verbindungen zwischen Musik, Mathematik und Physik bieten auch einige Anknüpfungspunkte um gerade die Mathematik etwas mit Leben zu füllen. Religion kann man sehr gut mit Geschichte oder Sozialwissenschaften/Politik kombinieren. Wenn sich in den Schulen eine Kultur fächerübergreifenden Arbeit durchgesetzt hat, werden sich wahrscheinlich auch viele weitere Möglichkeiten ergeben, die man erst während der engeren Zusammenarbeit entdeckt. Um in dem anfangs genannten sprachlichen Bild zu bleiben: Curry ist eine schmackhafte Mischung von sehr vielen Gewürzen, die im richtigen Verhältnis zueinander gemischt sind!


Ein weiteres Problem an vielen Schulen ist das fehlende Eigenengagement von Schülern. Oft wird die Unterrichtszeit einfach irgendwie abgesessen und die Schüler sind froh sobald die Schulglocke zum letzten Mal klingelt. Gerade mit Beginn der Pubertät, also ab der sechsten oder siebten Klasse kommt es bei vielen Schülern zu echten Motivationsschwierigkeiten. Natürlich sind dies Probleme, die teilweise einfach dem Normalverhalten eines sich umbauenden Hormonstoffwechsels geschuldet sind. Dennoch lässt sich ein nicht zu unterschätzender Teil dieser „Null-Bock-auf-Schule“-Phase auch auf die Art der Bildungsvermittlung zurückführen.

Schüler sind, auch wenn das Modell des Frontalunterrichtes zum größten Teil ausgedient hat, in den allermeisten Fällen als passives Mitglied am Unterricht beteiligt. Dies ist erst einmal gar nicht negativ, da für die Grundlagenvermittlung immer noch eine lehrerzentrierte Unterrichtsform am effektivsten ist. Sobald die Grundlagen jedoch verstanden sind und darauf aufbauendes Wissen vermittelt wird, gewinnen andere Unterrichtsmodelle zunehmend an Berechtigung. Man kann jetzt natürlich die Frage stellen, warum der Lehrerzentrierte Unterricht, wenn er doch so effektiv die Grundlagen vermittelt, nicht auch ideal für die Vermittlung des weiterführenden Wissens sein soll. Warum etwas Bewährtes gegen etwas Neues austauschen? Die Antwort auf diese Frage ist ziemlich einfach: Die Vermittlung von Grundlagen ist ein vollständig anderes Geschäft als die Vermittlung der weiterführenden Informationen!

Grundlagen müssen von jedem Schüler unabhängig von seinem Interesse beherrscht werden, damit er zumindest in groben Zügen alle Informationen, die irgendwie dieses Fach betreffen einordnen kann. Während sie für einen desinteressierten Schüler einfach eine Notwendigkeit sind, bieten sie für einen interessierten jedoch den Nährboden für die Befriedigung seiner Neugierde. Durch das Erlernen der Grundlagen werden viele Fragen aufgeworfen, für deren Beantwortung ein tieferes Eintauchen in das Thema notwendig ist. Das „Problem“, welches diese Neugierde darstellt ist, dass sie sich von Schüler zu Schüler stark unterscheidet. Während den einen im Fach X vor allem den Themenbereich Y interessant findet, ist für den anderen der Themenbereich Z deutlich wichtiger. Im lehrerzentrierten Unterricht sind diese diversen Interessen jedoch etwas, was nicht berücksichtig werden kann, da sich der Lehrer an seiner eigenen Agenda orientieren muss. Dies führt relativ schnell dazu, dass die anfängliche Neugierde in Frustration umschlägt und die Schüler im schlimmsten Fall sogar das Interesse an diesem Fach verlieren. Und diese Frustration dürfte einer der wichtigsten Auslöser für das fehlende Eigenengagement der Schüler sein. Besonders deutlich wird dies immer dann, wenn man einmal einen Blick auf die Freizeitbeschäftigung der Schüler wirft.

Gerade unter den Jungen in der Unterstufe dürfte es nur eine Minderheit geben, die nicht Fußballfan ist und den aktuellen Punktestand der Tabelle auswendig kennt. Zusätzlich dazu sind die meisten Jungen dazu in der Lage, einen guten Teil der Vereinsgeschichte „ihres“ Vereins zu erzählen und kennen oft sogar eine Vielzahl an Transfers und Trainerwechseln. Ein wichtiger Grund für diese Bildung ist, dass sie nicht nur an dem Thema interessiert sind, sondern in den meisten Fällen auch noch Unterstützung von ihren Freunden und Familien erfahren. So wird aus anfänglichem vorsichtigem Interesse schnell Begeisterung. Und diese Begeisterung hält in vielen Fällen ein Leben lang. Während Fußball sich thematisch nur schwer in das Schulcurriculum einbinden lässt, so fällt dies mit der Begeisterung für Raumfahrt, Kunst, Autos, Dinosaurier, Ritter und vielen weiteren „Kinderthemen“ sehr viel einfacher. Die Begeisterung ist bei vielen dieser Themen schon sehr früh geweckt worden, wird aber, bis auf wenige Ausnahmen, nur außerschulisch ausgelebt werden können. Wenn diese Begeisterung jedoch Unterrichtsinhalt werden kann, so wird man feststellen dass auch Schüler mitten in der Pubertät noch hochmotivierte und interessierte Personen sein können. Diese Begeisterung muss noch nicht einmal von „zu Hause“ mitgebracht werden, ihr Samen kann oft genug auch schon bei der Vermittlung von Grundlagen in eigentlich jedem Fach gesät werden. Wenn die Schüler die Möglichkeit eingeräumt bekommen, ihre speziellen Ideen und Fragestellungen zu diesem Thema zu bearbeiten, so entsteht aus Interesse ganz schnell Begeisterung und Motivation. Und diese Begeisterung für ein Themenbereich in einem Fach hilft in vielen Fällen auch ganz gut dabei weniger interessante „Durststrecken“ zu überstehen.

Ein Unterrichtskonzept, welches, nach der Vermittlung der Grundlagen, die verschiedenen Interessen der Schüler in den Mittelpunkt stellt, würde zumindest Teilweise der „Null-Bock“-Phase der Pubertät entgegenwirken und schon frühzeitig zu motivierten Personen mit hohen Problemlösungskompetenzen entstehen lassen. Es setzt aber voraus, dass die Schüler mehr oder weniger frei für sie besonders interessante Fragestellungen bearbeiten können und sie auch das entsprechende Fachmaterial dafür bekommen. Außerdem ist eine interdisziplinare Zusammenarbeit der verschiedenen Fächer auch dringend notwendig um die Fragenstellungen nicht zu stark einschränken zu müssen. Dies bedeutet aber auch, dass meist mehr als ein Lehrer pro Klasse gebraucht würde und die Lehrer nicht nur besondere Kompetenzen in der Wissensvermittlung benötigen, sondern auch über ein relativ weites gestreutes Fachwissen verfügen sollten. Zudem muss dieses Unterrichtskonzept, das ja doch einiges an Eigenarbeit erfordert, schon in der Grundschule implementiert werden, damit die Schüler auf den weiterführenden Schulen dann auch wissen was von ihnen erwartet wird. Die Erfahrung zeigt, dass es nahezu unmöglich ist, Schüler, die bis zur Mittelstufe nur den lehrerzentrierten Unterricht gewöhnt sind, auf einmal mit eigenverantwortlicher Arbeit zu „belasten“.

Neben all den „technischen“ Probleme, wie der Veränderung der Lehrerausbildung oder der sehr guten Absprache zwischen den verschiedenen Fächern gibt es aber auch noch ein ganz anderes Problem: Die Auswahl der Schüler. So wie nicht jede Person Spaß daran hat Verantwortung für viele Personen zu tragen, so hat auch nicht jeder Schüler Spaß daran sich mit Theorie zu beschäftigen – und das ist auch gut so! Eine Gesellschaft ohne Handwerker ist genauso so funktionsunfähig wie eine ohne Akademiker. Es muss also ein Auswahlverfahren geben. das weitestgehend objektiv die Motivation und den Spaß am eigenverantwortlichen Arbeiten des jeweiligen Schülers bewertet. Da im Laufe der Schulzeit noch große Entwicklungen möglich sind, sollte das System eine gute Durchlässigkeit aufweisen, aber ohne eine gute Zusammenstellung der Klassen wird kaum ein effektives Arbeiten möglich sein. 

Bildung ist das was übrigbleibt, 
wenn wir alles gelernte wieder vergessen haben!

Freitag, 4. Juli 2014

Zukünftige Vergangenheit




Die warme Nachmittagssonne schien mit einem schon leicht orange - gelben Licht auf die große Stadt und heizte die Betonschluchten mit ihren Asphaltcanyons gehörig auf. Doch niemand beschwerte sich darüber, ganz im Gegenteil. Die Personen auf der Straße lächelten einander zu, freuten sich über die Sonne und genossen ihre freie Zeit auf den großen Wiesen in den Parks oder an den Seen. Diese angenehme Leichtigkeit des Seins hatte auch die beiden jungen Menschen erfasst, die gerade auf der Treppe eines Museums saßen. „Wer die Vergangenheit erkennt, vermag auch die Zukunft zu erkennen“, las das Mädchen laut vor. Der Spruch stand auf einem Banner, das entlang der historischen Fassade des Museums befestigt war und wurde umrandet von den Köpfen bedeutender historischer Persönlichkeiten.

„Ein weiser Spruch“, stimmte der Junge, der neben ihr saß, zu. „Und leider von viel zu wenig Personen beachtet und von noch weniger ernst genommen“.

„Warum weise?“, wollte sie wissen.

„Lass uns aufstehen“, entgegnete er, „beim Gehen kann ich besser denken“.
Sie stand auf und machte leichtfüßig einen großen Satz über die beiden Stufen der Treppe, auf der sie saßen. Ihre langen, kupferfarbenen Haare reflektierten lustig das Sonnenlicht und ließen ihre Bewegung sehr fließend erscheinen. Der Junge warf noch einen dankbaren Blick in Richtung des blauen, wolkenfreien Himmels, bevor er auch aufstand und die beiden Stufen hinuntersprang.
„Also,“ fing er an. „Jede unserer Handlungen hat ja irgendeinen Grund. Lassen wir einmal alle reflexbedingten Handlungen und alle instinktiven Handlugen, wobei die Gründe für diese Handlungen einfach nur sehr weit in der Vergangenheit liegen, beiseite, so gibt es für jede Handlung einen Grund.“

„Das sagtest du bereits“, unterbrach sie ihn lachend. „Aber das bringt mich mit meiner Frage nicht weiter“.

„Ich wollte das nur noch einmal deutlich machen, damit es auch wirklich verstanden ist“, meinte er neckisch. Sie knuffte ihn zur Antwort bloß in die Seite. „Schon in der Formulierung dieser „Regel“ zeigt sich, dass „Grund“ und „Handlung“ maximal zeitgleich stattfinden können, jedoch kann niemals die „Handlung“ vor dem „Grund“ stattfinden. Denn dann müsste es ja heißen „Jede Handlung wird einen Grund haben“. Aber ist es überhaupt möglich, dass der „Grund“ für eine „Handlung“ zeitgleich mit der Handlung stattfindet? Ich denke nicht. Denn damit es von einem „Grund“ zu einer „Handlung“ kommt, muss erst eine „Bewertung“ und eine „Reaktion“, also eine „Prozessierung“ erfolgen. Dies bedeutet, dass der „Grund“ von einem „Sensor“ detektiert werden muss, damit er dann weiter von einer verarbeitenden Einheit, also in diesem Fall unserem Gehirn, verarbeitet werden kann. Und da manche von uns eine besonders „lange Leitung“ haben“, er warf einen belustigten Blick auf sie, „ist es ja schon eine Binsenweisheit, dass die „Handlung“ immer erst nach dem „Grund“ erfolgen kann.“

Sie hatten seinen Blick gesehen und gewartet, bis er seinen Bandwurmsatz zu Ende gebracht hatte. „Längere Leitung bei gleichem Volumen gleich mehr Gehirnwindungen pro Volumen gleich besseres Gedächtnis“ konterte sie. „Aber deine Argumentation klingt interessant. Du willst also darauf hinaus, dass wir für jede Handlung einen Grund aus der Vergangenheit benötigen. Das ist schön und gut. Aber warum sollten wir dann durch die Vergangenheit unsere Zukunft kennen? Du hast jetzt einfach kausal-deterministisch argumentiert. Daraus hat sich jetzt nicht ergeben, dass wir die Zukunft durch die Vergangenheit kennen, sondern nur, dass die Vergangenheit die Grundlage für die Zukunft ist. Was ja nichts neues ist – actio-reactio sollte man irgendwann mal gehört haben. Aber eine Kugel kennt ja auch nicht ihren Weg, wenn sie eine schräge Ebene hinunter rollte. Sie rollt zwar, weil sie angestoßen wurde, aber das „Anstoßen“ versetzt sie nicht in die Lage ihren weiteren Weg zu kennen und dementsprechend „kennt“ sie auch die Zukunft nicht wirklich. Warum sollten wir dann die Zukunft aus der Vergangenheit kennen?“

Während sie sprach entdeckte er in ihren Augen ein kleines Funkeln und meinte zu spüren, wie die Neuronen unter ihrer Schädeldecke anfingen ein Feuerwerk abzubrennen. Sie hatte sich auf seine Theorie eingeschossen, einen guten Treffer gelandet und jetzt war er wieder an der Reihe seine Linien wieder zu schließen und das verlorene Gelände wieder gutzumachen. Es war ein anregendes Spiel, bei dem keiner verlieren wollte und sie waren beide ziemlich gut darin!
„Natürlich hast du recht mit deinem Punkt. Das bloße Vorliegen eines „Grundes“ zeitlich vor der „Handlung“ bedeutet nicht zwangsläufig, dass wir deshalb wissen, wie die „Handlung“ verläuft und wir damit die Zukunft kennen würden. Aber du hast auch Unrecht. Denn wir entscheiden uns in einem entscheidenden Punkt von der Kugel, die du als Beispiel genommen hast: Wir sind biologische Systeme und zumindest prinzipiell erinnerungsfähig“.

„Du bildest dabei aber öfter mal die glorreiche Ausnahme“, merkte sie grinsend an.
Er überging ihre Neckerei mit einem Lächeln und fuhr fort. „Denn im Gegensatz zu der Kugel können wir den Weg der Kugel, je nach Datenlage, mit einer sehr hohen Genauigkeit vorhersagen. Im Idealfall könnten wir das sogar zu 100%. Der Grund dafür sind die verschiedenen physikalischen Formeln, die das Verhalten von trägen Materialen, von fallenden Körpern etc. beschreiben und zum Teil schon vor zwei- oder dreihundert Jahren aufgestellt wurden. Und das liegt nun wirklich deutlich in der Vergangenheit. Diese Formeln sind wiederum aus langen Beobachtungsreihen entstanden. Kurz gesagt: Alles, was wir sehen lässt sich mit der Physik nach Newton beschreiben. Würden wir alle Variablen kennen, könnten wir das Verhalten von jedem Körper zu jeder beliebigen Zeit vorhersagen. Und das alles nur dank „Gründen“, also Formeln, aus der Vergangenheit!“ Bei seinen 
letzten Sätzen glänzten seine Augen und er machte eine weit ausholende Geste.

„Newton war schon ein ziemlich genialer Mann“, stimmte sie ihm zu und wickelte eine Strähne ihrer Haare gedankenverloren um ihren Zeigefinger. „Aber er war ein Physiker, er hat damit nur das Verhalten von unbelebten Körpern beschrieben. Lebewesen hingegen zeigen da doch ein etwas anderes, eigenwilligeres Verhalten. Mit Newton wirst du partout nicht in der Lage sein zu erklären, warum meine Katze die Maus nur beschnuppert und sich dann mit ihr das Futter teilt.“
„Oder, warum du gerade deine Haare verknotet hast“, kommentierte er amüsiert ihren Versuch, die Haare wieder von dem Finger abzuwickeln. „Aber du hast wieder Recht, die Physik verleiht uns nur die Fähigkeit dank der Arbeit vergangener Genies die Zukunft von unbelebter Materie zu kennen. Aber die Zukunft von Lebewesen lässt sich trotzdem auch durch die Vergangenheit bestimmen. Was machst du wenn du Hunger hast?“

„Was essen!“ Sie guckte ihn etwas verwirrt an, während sie immer noch mit dem Knoten in ihren Haaren kämpfte. „Was denn sonst?“

„Und warum isst du?“ fragte er weiter und beobachtete dabei ihr Gesicht. Im ersten Moment herrschte noch vollkommene Verwirrung über diesen anscheinenden Themenwechsel in ihrem Gesicht vor. Ihre leicht gerunzelten Augenbrauen und ihr langsames Blinzeln verrieten, dass sie probierte den Sinn hinter dieser Frage zu verstehen. Dann hellte sich ihr Gesicht wieder auf und ein Ausdruck der Begeisterung macht sich um ihren Mund und ihre Augen breit.

„Du willst darauf hinaus, dass ich aus Erfahrung, also aufgrund meiner Vergangenheit weiß, dass essen satt macht. Auch diese einfache Handlung basiert also auf einer Extrapolation meiner „Erlebnisse“ der Vergangenheit in die Zukunft.  Da das Hungergefühl auch in der Vergangenheit verschwunden ist, wenn ich etwas gegessen habe, wird es wahrscheinlich auch in der Zukunft verschwinden. Das gleiche gilt dann auch für alle anderen Erlebnisse, vom Üben für eine Prüfung über das Erkennen von Gefahren bis hin zum sozialen Umgang mit anderen Menschen. Immer handele ich so, wie es in der Vergangenheit schon zu für mich positiven Ergebnissen geführt hat.“ Sie hielt kurz inne und warf einen Blick auf die Haare in ihrer Hand. Sie hatten den Knoten endlich heraus bekommen und strich die Strähne nun wieder glatt. Während ihre Hände automatisiert handelten, dachte sie an die weiteren Implikationen dieser Idee. Das dezente Grinsen, was ihren Mund meist umspielte, wuchs zu einem fröhlichen lachen heran. „Du hattest Recht und auch wiederum nicht!“

„DAS musst du mir jetzt genauer erklären“ antwortete er interessiert. Sie hatte seine Idee offensichtlich besser verstanden als er selber, da er keinen Fehler darin finden konnte.
„Naja, die Frage war ja, ob wir die Zukunft über die Vergangenheit erkennen können. Das können wir aber auch nach der gerade aufgestellten Theorie bei Lebewesen, wenn man mal alle „biologischen Computer“ rauslässt, also alle Einzeller und instinktgesteuerten Lebewesen, nur bedingt. Denn unser Verhalten in der Zukunft beruht nämlich nicht auf unabänderlichen naturwissenschaftlichen Gesetzen, sondern auf Wahrscheinlichkeiten!“  Sie sah an seinem nachdenklichen Gesichtsausdruck, dass er probierte zu verstehen, wie sie darauf gekommen ist. „Bei deinem Beispiel mit dem Hunger ist es noch alles so wie in dem Beispiel mit der Kugel auf der schiefen Ebene. Wir kennen alle Parameter und können dementsprechend das Ergebnis vorhersagen. Das Hungergefühl entsteht unter anderem durch eine geringe Füllung des Magens und sobald der wieder gefüllt wird, verschwindet es wieder. So weit, so einfach. Aber was ist mit komplizierteren Handlungen? Angenommen ich würde mich hier nicht auskennen und hätte mich verlaufen. In der Vergangenheit habe ich verschiedenen Methoden kennen gelernt um mich wieder zu orientieren. Ich setzte jetzt einfach mal voraus, du wärst ein Beobachter, der über all meine vergangenen Erfahrungen Bescheid weiß. Könntest vorhersagen, was ich jetzt mache?“

„Wahrscheinlich nicht. Ich kenne dich zwar schon seit Ewigkeiten und dürfte dementsprechend nicht nur die meisten deiner Erfahrungen kennen, sondern habe zusätzlich noch recht gute Kenntnisse darüber, wie du die Erfahrungen prozessierst und an neue Situationen adaptierst. Aber auch mit diesem Wissen wäre ich nur in der Lage zu vermuten, wie deine nächste Handlung aussieht. Bei vollständiger Kenntnis der Situation könnte ich zwar eine ziemlich sichere Vermutung abgeben, aber es würde trotzdem unterschiedliche Möglichkeiten mit jeweils unterschiedlichen 

Wahrscheinlichkeiten geben. Du wärst vermutlich zu Stolz um irgendjemanden um Rat zu fragen und würdest so lange in der Stadt umherirren, bis du einen Stadtplan oder eine Straße, die dir bekannt vorkommt, gefunden hast.“ Diesen kleinen Seitenhieb konnte er sich nicht verkneifen. Allerdings war er sehr angetan von ihrer Schlussfolgerung, dass die Zukunft trotz guter Kenntnisse der Situation und der vergangenen Erfahrungen nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden kann. Irgendwie schaffte sie es immer wieder, dass er sich im Gegensatz zu ihr relativ ungebildet vorkam.
„ Nicht ganz“, konterte sie seine Neckerei. „Ich würde vermutlich einfach mein Handy bemühen, das habe ich im Gegensatz zu dir nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu Hause vergessen.“ Sein schiefes Grinsen verriet ihr, das sie damit voll ins Schwarze getroffen hatte. „Wer die Vergangenheit erkennt, vermag auch die Zukunft zu erkennen“, wiederholte sie den Satz, der die ganze Diskussion ausgelöst hatte, noch einmal langsam. Sie hatte wieder angefangen mit ihren Haaren zu spielen und ein verträumter Ausdruck schlich sich in ihr Gesicht. Der Ausspruch stimmte zwar nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, aber im Großen und Ganzen war er doch nicht ganz falsch. Vielleicht sollte man sich doch mehr mit der Geschichte beschäftigen, dachte sie. Vielleicht würde das helfen, das Leben mit all seinen Tücken und Fallen einfacher zu verstehen und viele Fehler einfach zu vermeiden. Die meisten Fehler sind ja schließlich schon von anderen Menschen gemacht worden!
Sie hatten beide unbewusst einen kleinen Park angesteuert, der an einen Teil des Stadtwaldes angrenzt. Die Sonne hing mittlerweile schon Tief genug um hinter den Baumwipfeln zu verschwinden und ließ ihr warm-oranges Licht durch die Baumreihen blitzen. Sie setzten sich schweigend nebeneinander auf die Wiese und ließen dieses angenehme Licht auf ihre Gesichter scheinen. Für einen kurzen Moment verschwamm die Welt um sie herum und sie tauchten in ihrer Gedanken eiin. Dann verschwanden die Sonnenstrahlen wieder zwischen den Bäumen und die restliche Welt gewann wieder an Schärfe.

„Kleinkinder und Babys kennen auch keine Zukunft, weil sie ja noch keine Erfahrungen, keine Vergangenheit haben“, ließ sie in die Stille zwischen ihnen fallen. „Deshalb handeln sie oft unvorhersehbar und man muss immer auf sie aufpassen. Sie leben sozusagen immer im „hier und jetzt“, ganz im Gegensatz zu uns“. Ein klein wenig Wehmut mischte sich in ihre Stimmte.
„Wenn Kleinkinder nur in der Gegenwart, im „hier und jetzt“ leben können, leben wir dann eigentlich in der Vergangenheit? Oder doch eher in der Zukunft?“ Er wirkte fast schon ein wenig verwirrt, an diese Implikation hatte er noch gar nicht gedacht. Dass es in einem gewissen Rahmen nicht nur möglich ist die Zukunft über die Vergangenheit vorherzusagen, sondern dies eigentlich ständig im Alltag geschieht, warf eine Menge an neuen Frage auf.

„Naja, weder noch“ meinte sie leichtmütig. „Oder sowohl als auch, je nachdem wie du es sehen möchtest. Wir bedienen uns eigentlich bei jeder unserer Tätigkeiten, jedem Gespräch, ja sogar jeder Geste aus unserem Erfahrungsschatz. Da dieser eindeutig durch unsere Erlebnisse in der Vergangenheit zustande gekommen ist, macht die Vergangenheit einen sehr wichtigen Teil unserer „Gegenwart“ aus. Gleichzeitig überlegen wir, bewusst oder unbewusst, was für Folgen unser Handeln für die Zukunft hat. Ich möchte satt werden, also esse ich – um dein Beispiel noch einmal aufzugreifen. Und auch dieses Mal steckt in der Formulierung schon eine sehr wichtige Information: Das „werden“ bezieht sich auf die Zukunft, wir handeln also nicht um unsere Situation in dieser Sekunde, sondern in gewisser Zeit zu verbessern.“ Im gleichen Maße wie sie ihre Argumentation aufbaute, zog ein düsterer Ausdruck auf ihrem Gesicht auf. Nach ihrem letzten Wort sah sie in leicht verärgert an „Wenn alles Vergangenheit oder Zukunft ist, was ist dann überhaupt das jetzt, die Gegenwart?“ Sie hatte ein Gänseblümchen von der Wiese gepflückt und zerrupfte es unruhig. „Sie muss es doch geben, wo leben sonst die Kleinkinder?“

Er musste aufgrund der Formulierung der letzten Frage grinsen. „Zu Hause, denke ich mal.“ Auch seine Finger waren unruhig und unbewusst fing er an einen großen Löwenzahn zu bearbeiten. „Aber eigentlich ist das mit der Gegenwart recht einfach“, meinte er schließlich. „Prinzipiell ist die Gegenwart immer der „Ist-Moment“, der eine weitere Handlung induziert. Das Gefühl „Hunger“ ist ein „gegenwärtiges“ Gefühl. Der Schmerz, wenn du dich schneidest, ist ein „gegenwärtiges“ Gefühl. Die bloße Tatsache, dass wir hier sitzen ist Gegenwart. Aber immer nur für einen winzigen, nicht messbaren Moment.“ Er verstummte kurz und sah auf die kläglichen Rest des Löwenzahns in seinen Händen. Schnell warf er den Stiel weg und schnappte sich den nächsten. Irgendwie beruhigte es ihn, wenn seine Hände etwas zu bearbeiten hatten, während er dachte. Sie hatte inzwischen einen ganzen Haufen an Gänseblümchen gefunden und daraus eine Kette gemacht. Es war faszinierend anzusehen, wie so etwas Einfaches so schön aussehen konnte, dachte er. Sie hatte seinen Blick bemerkt und hielt kurz inne in ihrer Arbeit, ein Armband aus den restlichen Blümchen zu zaubern „Sieht nicht schlecht aus, oder?“

„Ganz und gar nicht!“ Doch das er seinen Blick nicht von der Kette lösen konnte, lag nicht nur an ihrer schlichten Eleganz. „Ich glaube, ich weiß jetzt, wie du dir die „Gegenwart“ vorstellen kannst!“ Sie sah in interessiert an „Erzähl!“

„Stell dir vor dass jedes Gänseblümchen in deiner Kette eine „Gegenwart“ ist. Wenn du jetzt ganz willkürlich ein Gänseblümchen als „Jetzt“ bezeichnest und kurz mal die Zeit anhältst, sodass das „Jetzt“ bestehen bleibt, ist der Rest ganz einfach. Alle Blümchen bis zu dem „Jetzt“ sind dann „vergangene Gegenwart“ oder einfacher gesagt „Vergangenheit“. Alle Blümchen nach dem „Jetzt“ sind dann „zukünftige Gegenwart“ oder „Zukunft“. Du existierst also immer nur in der „Gegenwart“, aber du wanderst auf ihr – oder mit ihr – aus Richtung „Vergangenheit“ in Richtung „Zukunft“!
Sie hatte ihr Armband fertiggestellt und probierte nun es über ihre Hand zu bekommen, ohne es dabei zu zerreißen. Nach dem sie es ein paar Mal versucht hatte, seufzte sie einmal kurz, und streckte sich um an ein weiteres Gänseblümchen zu kommen. „So wie du es beschreibst, wäre dann aber die Zukunft schon vorhanden. Das ist ein sehr deterministischer Gedanke. Und wie wir schon festgestellt hatten, ist zumindest das Verhalten der Menschen nur zu einer bestimmten Wahrscheinlichkeit vorhersagbar. Es ist also nicht nur eine mögliche Zukunft vorhanden, sondern nahezu endlos viele, da es nahezu endlos viele verschiedene Handlungsmöglichkeiten der über sieben Milliarden Menschen gibt. Das macht es uns unmöglich alle möglichen Varianten der Zukunft zu kennen.“

"Und wie sieht es mit einem hypothetischen Wesen aus, dass das Verhalten von allem mit Sicherheit kennt? Für so ein Wesen  würde meine Erklärung doch gelten!“ Es war ein halbherziger Versuch von ihm sein schönes Beispiel zu retten. Ihre Erklärung war argumentativ eindeutig die bessere, aber er wollte seinem Beispiel mit der Kette zumindest einen letzten Rest an Sinn geben.

„Für so ein Wesen würde deine Erklärung gelten,“ gestand sie ihm lachen zu. „Aber da wir leider nicht über solche Eigenschaften verfügen, ist es für uns irrelevant wie die Zukunft mit solchen Eigenschaften aussehen würde.“ Sie hatte das Armband endlich fertig gestellt und begutachtete für einen kurzen Moment ihr Werk, bevor sie weitersprach. „Um das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu beschreiben, eignet sich wahrscheinlich eine Linie, die mit einem Kugelschreiber gezogen wird, am besten. Die Vergangenheit, also der Strich, der schon existiert, ist fixiert und lässt sich weder verändern noch vernichten. Die Gegenwart ist immer nur der kleine Kopf der Mine, der ständig weiterwandert. Und die Zukunft ist das gesamte freie Blatt vor dem Stift. Am wahrscheinlichsten ist natürlich eine nahezu unveränderliche Weiterführung des vorherigen Teilstückes der Strecke, aber es kann durchaus auch abrupt zu einer Kurve oder Ecke kommen. Fest steht nur, dass, so lange es Zeit gibt, die Linie weiter gezogen wird.“

„Und das wir Menschen dann doch einen ganz schönen Einfluss auf unsere direkte und spätere Zukunft haben können“ ergänzte er zufrieden. „Es ist echt faszinierend, wie sehr wir durch Rekombination von bekannten Sachen und ein klein wenig Neugierde immer wieder eine komplett neue Zukunft schaffen. Dabei liegt lediglich unsere Existenz in der Gegenwart, während unser Denken und Handeln irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft pendelt.“ Die letzten Reste der Sonne waren jetzt vollständig hinter den Bäumen verschwunden und es wurde langsam ein wenig kühl. Sie sahen sich beide kurz an und standen auf.

„Dass du jetzt auch aufstehst, hätte ich vorhersagen können“ meinte sie fröhlich. „Aber viel besser als das ist die Erkenntnis, dass es zwar normalerweise nahezu unmöglich ist, das Verhalten von Einzelpersonen in der Zukunft vorherzusagen, aber es verhältnismäßig gut geht, das Verhalten von großen Gruppen, Populationen, Staaten und Ethnien bei ausreichender Kenntnis der Geschichte und der gegenwärtigen Situation vorherzusagen.“

Ein Augenblick sah er sie verdutzt, dann fing er an zu lachen. „Wenn du dich ab jetzt immer so ausdrückst, verkaufe ich dich als „lebendes Wikipedia“!
„Dann halte ich mich in Zukunft wohl wieder besser zurück – auch, um deinen Ego zu schonen und dir nicht immer zu zeigen, dass ich doch mehr weiß als du.“
„Das wäre noch zu beweisen“, gab er zurück. Sie verließen den kleinen Park wieder und sobald sie das kleine Waldstück weit genug hinter sich gelassen hatte, schien ihnen die mittlerweile fast untergegangene Sonne mit ihren letzten Strahlen wieder ins Gesicht. Es war ein schöner Sommerabend und sie genossen den Augenblick dieser einfachen Leichtigkeit des Seins. 

Vergangene Zukunft - Zukünftige Vergangenheit